Wir haben das vor vier Wochen schon einmal diskutiert.
Und laut @jep zuvor schon öfter - vor meiner MSR-Zeit.
Ich habe in meinen Posts versucht, ein psychologisches Verständnis für die Frage aufzuzeigen, weshalb die Russen Putin nicht längst außer Landes gejagt haben.
Und ich habe den Bäumlein-Wechsle-Dich-Kurs Russland und Putins in der NATO-Frage detailliert aufgezeigt. (Gorbatschow war gegen die NATO-Osterweiterung. Jelzin war sie völlig egal, solange er finanziell vom Westen an der Macht gehalten wurde. Putin verfolgte bis 2004 einen annähernden NATO-Kurs und schloss sogar eine Mitgliedschaft Russlands nicht aus. Erst dann ging er auf Konfrontationskurs.)
Ich vertrete lediglich folgende Standpunkte (und auch wenn ich Precht nicht besonders hoch schätze, liege ich diesbezüglich mit ihm auf einer ähnlichen Linie)
- Putin ist ein Kriegsverbrecher und führt einen völkerrechtswidrigen imperialistischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
- Er nutzt geschickt jedes propagandistische Mittel, um diesen Krieg als eine antifaschistische Operation darzustellen und ist sich dabei zu keiner Lüge zu schade.
- Es ist absolut nötig, dass die Internationale Staatengemeinschaft Russland dazu zwingt, diesen Krieg sofort zu beenden.
Aber:
- Ich halte es für sehr verkürzt, historisch zu argumentieren, dass die NATO-Osterweiterung seit 1990 die einzige politische Option gewesen wäre. Es ist politisch von allen Beteiligten gewollt gewesen, die ehemaligen Ostblockstaaten zu NATO-Mitgliedern zu machen. Und mögliche Alternativen wie ein blockfreies Osteuropa wurden ignoriert. Es wurde kein Versuch unternommen, eine europäische Sicherheitskonzeption zu wagen, die Russland miteingebunden hätte. Dies ist das historische Versagen von Westeuropa und Washington. Und ich glaube, dass dies bei vollem Bewusstsein geschah.
- Statt dessen stehen NATO-Truppen nunmehr all along der russischen Grenze.
So wie das die Militärdoktrin der NATO angestrebt und nun erreicht hat. Kuck dir die Karte bitte an @Faenger . Und dann erkläre mir, dass mit einer NATO-Mitgliedschaft von Georgien und der Ukraine nicht die gesamte West-Grenze Russlands an NATO-Staaten grenzte. Kannst Du das mal für einen Moment mit den Augen eines russischen Generals sehen? Wenn die beiden grünen Staaten auch noch blau sind? Ab wann wird er Russland als eingekesselt betrachten? Erst wenn Weißrussland der NATO beitritt? - Es ist imo völlig egal, wer wem vor 35 Jahren in Oggersheim was angeblich zugeraunt oder versprochen hat. Damit wird ein Nebenschauplatz eröffnet, der mit den eigentlichen Fragen überhaupt nichts zu tun hat. Das inkriminierte Precht-Interview bezieht sich überhaupt nicht auf diese Kreml-Rhetorik („Die NATO-Osterweiterung bricht die 4+2-Verträge“) - mit keinem Wort, auf die offenbar jedeR inzwischen wie ein HB-Männchen reagiert - selbst wenn das gar nicht angesprochen wird. Im Gegenteil: Putin hat geschickt ein Narrativ in die Welt gesetzt, auf dass der Westen (und leider auch Du @Faenger) reinfällt, um vom eigentlichen Thema abzulenken:
- Die Ukraine mit der Krim und Georgien sind Russlands geopolitischer Schlüssel zum Mittelmeerraum. In einer Analyse der Böll-Stiftung noch vor dem russischen Einmarsch wird dies detailliert beschrieben:
Blockzitat
Die Verengung der geopolitischen Debatte „nur“ auf das Schwarze Meer, blendet die Relevanz dieser Region für einen viel breiteren strategischen Ansatz aus. Russland und die Türkei als die beiden entscheidenden Akteure in der Schwarzmeer-Region können hier als Referenzpunkte dienen, wenn auch mit unterschiedlichen Interessen. So ist aus russischer Sicht die Schwarzmeer-Kaspische-Großregion Sprungbrett für Machtprojektion und Einfluss im Mittelmeer, Nahen Osten, Nordafrika und Südeuropa. Das Schwarze Meer ist somit Zentrum und Zugang zu Schlüsselregionen, in denen wichtige sicherheitspolitische Herausforderungen (Syrien, Iran, Irak, Libyen) sowie Zugänge zu bedeutenden Energieressourcen (Naher Osten, Kaspischer Raum und Nordafrika) bestehen.
Blockzitat
Strategische Souveränität in der südöstlichen Nachbarschaft der EU: Das Schwarze Meer als Teil einer geopolitischen Großregion | Heinrich-Böll-Stiftung
- Ich glaube, dass der Westen Putin bewusst und vorsätzlich immer weiter in die Enge gedrängt hat. Und in der Ukraine hat der Westen (sehr zynisch formuliert) den Dummen gefunden, der unseren Krieg gegen den Kreml stellvertretende für uns austragen darf. Wir versprechen der Ukraine die NATO-Einladung für bald - aber erst müsst ihr den Krieg überleben, sonst träte ja der Bündnisfall ein und wir müssten tatsächlich losmarschieren. Wir schicken euch einstweilen unsere ausrangierten Waffen, ansonsten toi-toi-toi - ihr Ukrainer verteidigt die Freiheit Europas und der Welt. Brave Kinder - wer’s überlebt, darf dann inne NATO. Irgendwann mal…
Mein Dilemma ist: Wenn ich bezgl. der angeblich freiheitlich-friedlichen Motive des Westens skeptische Standpunkte vertrete, werde ich der Reihe nach oder zumindest wahlweise betrachtet als
- Sahra-Knecht und Putin-Büttel
- Geschichtsverdreher
- Rechtfertiger des Putin‘schen Imperialismus
- Verbreiter von Märchen und wahrscheinlich demnächst auch noch als
- Verschwörungstheoretiker bezeichnet
Die Einkesselung Russlands durch die NATO ist kein Märchen, sondern ein geopolitisches Faktum.
Die Haltung der Sowjetunion 1990 zu einer NATO-Osterweiterung war ein klares und eindeutiges Nein. (Auch wenn diese Debatte eine politische Nebelkerze des Kremls ist, an der sich seitdem Westeuropa abarbeitet.)
Selbst die von Dir @Faenger zitierte Correctiv-Quelle schließt mit folgenden Worten:
Blockzitat
Es gab mündliche Aussagen in den 1990er Jahren, die als Zusicherung interpretiert werden könnten, dass eine Erweiterung der Nato gen Osten nicht angestrebt werde. Immer neues Archivmaterial taucht auf, über dessen Bedeutsamkeit Historikerinnen und Historiker diskutieren. Rechtlich verbindlich sind diese angeblichen mündlichen Versprechen nicht.
Missbraucht Putin die Unschärfen der Geschichte als vorgeschobenen Grund für seinen Krieg? Dafür spricht vieles.
Blockzitat
Ich komme immer wieder zum selben Schluss.
Eine aggressive Ausdehnung der NATO bis an Russlands Grenze ist das Ziel westlicher Militärpolitik.
Die Ukraine ist Spielball der imperialistischen Interessen von NATO und Kreml.
Es passt dem militärischen Westen ganz gut, dass im Kreml kein alkoholkranker Boris, sondern ein eiskalt kalkulierender, machtbesessener Ex-KGBler sitzt: Ohne dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine hätten die NATO-Staaten kaum so zügig und drastisch grenzenlose Budgets für Aufrüstung bewilligt.
Die NATO braucht Russland als Feind und potentiellen Aggressor.
Wir fallen zurück ins finstere Mittelalter des Kalten Krieges, der jetzt Version 2.0 erlebt. Alle Kohle in den militärischen Komplex - „whatever it takes“.
Der einzige Vorteil von Version 1.0 war:
Im Kreml saßen damals senile Betonköppe.
Und im Weißen Haus zumindest noch kein dementer autokratischer Oligarch.
Die beiden, die heute den Finger am roten Knopf haben, machen mir wirklich Angst.