Sehr spannende Diskussion. Ich bin schon aus theoretischen Überlegungen heraus auch ein Befürworter des Grundansatzes, das Spiel der eigenen Mannschaft so zu strukturieren, dass man eher 5:3 gewinnt als 2:0. Ich habe dazu vor einiger Zeit auch einmal einen kurzen Artikel geschrieben, in dem ich das logisch begründe. Außerdem machen mir ganz egoistisch gesagt actionreiche 5:3-Spiele beim Zuschauen einfach mehr Spaß als solche der Kategorie „die Null muss stehen“. Flicks Ansatz war für mich im Prinzip ein Traum. Ich habe die ~18 Monate seiner Amtszeit wirklich genossen, insbesondere das erste Jahr.
Die Zweifel daran, wie nachhaltig Flicks Ansatz war, also wie dauerhaft er von der Mannschaft erfolgreich durchzuhalten gewesen wäre, kann ich aber nachvollziehen. Flick setzte auf einen kleinen Pool von Spielern der ersten Wahl und das ständige high intensity Pressing und Gegenpressing ohne Modulation der Dynamik war für die Spieler sicherlich nicht nur physisch, sondern auch - und vor allem - mental sehr fordernd. Man muss unter Flick als Spieler 90 Minuten kontinuierlich konzentriert, untereinander koordiniert und jederzeit spontan handlungsfähig sein, ohne jemals abzuschalten. Fallen unter diesen Bedingungen zu viele Spieler erster Wahl auf einmal aus - wobei die Schwelle zu „zu viele“ bei Flick ziemlich niedrig liegt - oder finden sehr viele Spiele innerhalb kurzer Zeit statt, leiden Konzentrationsniveau und damit Ergebnisse schnell. Unabhängig davon, in welchen anderen Bereichen Nagelsmann welche Vor- und Nachteile auch immer gegenüber Flick haben mag, in der Frage einer dauerhaft durchzuhaltenden Spielweise jedenfalls dürfte er deutlich im Vorteil sein. Sein Ansatz kennt so etwas wie Ruhephasen und Variation der Aggressivität. Flick war mehr ein Idealist, Nagelsmann ist ein Pragmatiker. (Und Idealisten sind oft spannender, Pragmatiker näher am Leben )
Was die Länge des Ballbesitzes angeht, stimme ich den empirischen Beobachtungen und den Einschätzungen solcher Experten wie Rangnick vollkommen zu, dass die Wahrscheinlichkeit des Torerfolges als Abschluss einer Ballbesitzphase desto geringer wird, je länger das ballführende Team im Ballbesitz ist, wobei dieser Wert nicht gen Null konvergieren wird, sondern sich irgendwo im mittleren einstelligen Prozentbereich einpendeln dürfte. Wir haben also eine stark fallende Kurve, die schnell im kleinen einstelligen Prozentbereich parallel zur y-Achse ausläuft.
Ich glaube, der eigentliche Sinn einer Ballbesitzphase liegt nicht daran, einen Angriff zu kreieren, sondern den Gegner am Torerfolg zu hindern. Der Ballbesitz ist ein eminent defensives Spielmittel. Man muss sich das klar machen: Jede Mannschaft hat während eines Spiels jeweils genau gleich oft den Ball (+/-1), egal wie lange sie jeweils im Ballbesitz ist. Das ist mathematisch notwendig, denn nach jedem Ballverlust wechselt der Ballbesitz, +1 hier, +1 dort, +1 hier, +1 dort usw. begonnen bei 0 und am Ende steht man bei x und x+1. Das heißt also, dass jede Mannschaft in jedem Spiel auch genau gleich oft +/-1 die Chance bekommt, ein Tor zu erzielen, auch wenn die Ballbesitzphasen des einen Teams immer nur 5 Sekunden dauern und die des anderen 50 (Eigentore ausgeklammert). Dann hat die Mannschaft mit den 50 Sekunden auf die 90 Minuten des Spiels gerechnet den Ball zwar insgesamt länger, aber sie hat ihn genauso oft wie der Gegner.
Ob nun in einem Spiel also beide Mannschaften jeweils 30 Mal den Ball haben oder 150 Mal, hängt vollständig von der Länge des jeweiligen Ballbesitzes ab. Möchte die eine Mannschaft die Anzahl der Gelegenheiten der anderen Mannschaft, ein Tor zu erzielen, so weit wie möglich minimieren, muss sie folglich alles versuchen, bei jeder eigenen Ballbesitzphase so lange wie möglich im Ballbesitz zu bleiben und bei jeder Ballbesitzphase des Gegners diesem so spät wie möglich den Ball wieder abzunehmen. Ergo ist der Ballbesitz bzw. ein möglichst langer Ballbesitz, in dem sich geduldig der Gegner zurechtgelegt und eine Torchance herausgespielt wird (wie sich das die Fans immer so vorstellen und toll finden), im Kern kein offensives, sondern ein essentiell defensives Instrument der Spielgestaltung. Langer Ballbesitz dient nicht dazu, sich besonders tolle Angriffe herauszuspielen (im Gegenteil, die Torerzielungswahrscheinlichkeit nimmt mit der Zeit ab), sondern möglichst wenige Gegentore zu kassieren (und sich physisch und mental zu erholen - und damit bin ich dann wieder bei Nagelsmann und Flick. Wenn das mal kein Bogen war. )