Zunächst widerspricht das Erste dem Zweiten nicht. Das Ideal ist zwar, die menschliche Wahrnehmung nur dort durch die technische Wahrnehmung zu ersetzen, wo die menschliche Wahrnehmung nicht ausreicht, aber wenn die menschliche Wahrnehmung nirgendwo ausreicht, dann wird sie unter diesem Ideal auch vollständig durch die technische Wahrnehmung ersetzt.
Ob eine Kniescheibe im Abseits steht, ist prinzipiell eine objektivierbare Wahrnehmung. Somit ist eine nicht gegebene Abseitsentscheidung bei einer Kniescheibe, die vom Schiedsrichter objektiv falsch als nicht im Abseits stehend erkannt wurde, eine prinzipiell korrigierbare Entscheidung. Technisch gesehen wäre also eine objektiv bessere Entscheidung möglich und die objektiv schlechtere Entscheidung müsste gute Gründe dafür vortragen, warum sie dennoch zu bevorzugen wäre.
Diese Frage hat zunächst @Mondrianus und jetzt auch Du im obigen Zitat aufgeworfen: „Ist eine Kniescheibe im Abseits eine so elementar falsche Wahrnehmung im Sinne des Sports, dass hier die Menschen auf dem Platz überstimmt werden müssen?“
Ich kann nur noch einmal das wiederholen, was ich bereits gesagt habe. Die Antwort lautet: eindeutig ja! Denn eine objektive richtige Entscheidung wäre möglich gewesen, und die Aufregung über eine aus Sicht der Fans falsche Entscheidung des Schiedsrichters wäre in jedem Fall noch größer, wenn der zugrunde liegende Sachverhalt zusätzlich zu allen anderen strittigen Punkten, die sich an der strittigen Szene möglicherweise entzünden mögen, auch noch objektiv falsch erkannt worden wäre. Wenn bei einer Entscheidung, bei der es ein objektiv entscheidbares Element gibt, dieses Element objektiv falsch entschieden wird, kann alle mögliche Empörung über diese Entscheidung nur größer und nicht kleiner werden.
Stünde bei der Abseitsentscheidung der individuelle Vorteil des potentiell im Abseits stehenden Spielers im Mittelpunkt der Entscheidung, würde der Schiedsrichter auf dem Platz in jeder potentiellen Abseitssituation nach eigenem Ermessen über den Grad des Vorteils des Spielers und damit wieder individuell und subjektiv über Abseits oder nicht Abseits entscheiden, womit die Idee der Objektivierung, die hinter der Einführung des VAR stand, hinfällig wäre. Das überzeugt mich nicht.
Hättest Du stattdessen einen Toleranzbereich von, sagen wir, 20 cm vorgeschlagen, sodass ein Spieler nur dann im Abseits steht, wenn sich sein vorderster abseitsfähiger Körperteil mindestens 20 cm torseits der Abseitslinie befindet, hätte ich Dir zugestimmt. Aber ein Zurück in eine Welt, in der die Abseitsentscheidung wieder einen größeren subjektiven Anteil hat als heute hat, halte ich für einen Rückschritt. Dadurch werden keine der existierenden Probleme gelöst, aber dafür noch weitere Quellen für Aufregung und Unzufriedenheit hinzugefügt.
Die Abseitsentscheidung fällt eindeutig in die Kategorie der objektivierbaren Entscheidungen, die Handregel hingegen nicht, sodass ein Vergleich der beiden Entscheidungen in dieser Hinsicht nicht zulässig ist. Bei der Handregel gibt es kein objektivierbares falsch oder richtig, da die Handregel eine subjektive Interpretation des Schiedsrichters beinhaltet, die nicht durch den Einsatz von Technik objektivierbar ist. Natürlich könnte man die Handregel objektivieren, indem man z. B. sagt, dass jede Ballberührung mit der Hand im Strafraum automatisch als Handspiel gewertet wird, egal unter welchen Umständen, und dass die Ballberührung durch Technik objektiv festgestellt wird, z. B. durch einen stoßempfindlichen Chip im Ball o.ä… Dies setzte aber eine Regeländerung voraus, da die Handregel in ihrer jetzigen Form nicht objektivierbar und damit auch nicht objektiv ist und sie daher nicht als Argument gegen eine Objektivierung der Abseitsregel, bei der dies technisch und praktisch möglich ist, dienen kann.
Zusammengefasst: Eine Re-Subjektivierung der Abseitsregel würde mehr Probleme erzeugen als sie löst (nämlich bis auf ein paar praktische Beschleunigungseffekte im Spielvollzug eigentlich keins), während eine Objektivierung der Handregel unmöglich ist und, wenn sie möglich wäre, nicht sinnvoll, weil sie jeder Form, in der sie objektiv durch Technik entschieden werden könnte, vollkommen künstlich und spielfeindlich wäre.