1. Um andere Menschen so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden will, muss man Religion nicht überwinden, das geht auch so.
2. Wenn Du unter „überwinden“ in Bezug auf Deutschland zum Beispiel verstehst, dass der Staat gezielte Anstrengungen unternehmen soll, um den Stellenwert der Religion in der Gesellschaft zurückzudrängen, beispielsweise indem er damit beginnt, sich etwa wie in Frankreich eine strenge verfassungsrechtliche Laizität zu verordnen, sämtliche finanziellen und nicht-finanziellen Leistungen an die Kirchen einzustellen, den Religionsunterricht aus staatlichen Schulen zu verbannen und so weiter, dann würdest Du nur ein weiteres gesellschaftliches Konfliktfeld eröffnen und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt nur noch einen weiteren Riss zufügen, indem Du den Kampf um Anerkennung und Vertretung in unserer Gesellschaft nur noch einer weiteren Gruppe - den Gläubigen und den Anhängern der Kirche -, der bis dato vollkommen unauffällig und politisch geordnet war, plötzlich mit einer existenziellen Bedeutung aufladen würdest („wir gegen die, und unser Niederlage ist unser Untergang“). Ich glaube an Konfliktlinien, manifesten und latenten, ist unsere Gesellschaft schon gegenwärtig nicht arm, auf eine weitere können wir gut verzichten.
Ich hielte daher so eine Form der aktiven „Überwindung“ der Religion schon allein aus politischen Gründen nicht für klug (in Deutschland, gegenwärtig).
@jep: Dein Argument hat zwei Teile. Ob uns die Abschaffung von Religion (wie auch immer das gehen soll und was auch immer das bedeutet) eo ipso zu besseren Menschen machen würde, halte ich auch für höchst fraglich, mal ganz abgesehen von den praktischen Konsequenzen für das gesellschaftliche Leben auf dem Weg dorthin (siehe oben).
Aber dem Argument im ersten Teil Deiner Nachricht, dass uns eine Verankerung in der Religion zu moralischen oder wenigstens moralischeren Menschen macht bzw. dass unsere Fähigkeit zu moralischem Handeln, das Richtige von dem Falschen und das Gute von dem Bösen zu unterscheiden, notwendig von Religion abhängt, wäre ich sehr zögerlich zuzustimmen. Weder glaube ich, dass uns z. B. tiefer christlicher Glauben gegen die Fähigkeit, Böses zu tun, moralisch imprägniert, noch glaube ich, dass unsere Fähigkeit zu moralischem Handeln vom Grad unserer individuellen oder gesellschaftlichen Religiosität abhängt. Es gibt viele Theorien, die die Quelle unserer moralischen Kompetenz als Menschen mit anderen Dingen als Religion erklären können, zum Beispiel mit humanistischen Überzeugungen, moralischer Intuition oder auch der Vernunft (Kant).