Wow, was für eine ganz tolle, wirklich unaufgeregte, produktive und aufklärerische Diskussion. Danke an alle Beteiligten, @cheffe, @jep, @Lukenwolf1970, @anon19834089, @willythegreat, @wohlfarth et al.
Da zwar schon alles gesagt ist, aber noch nicht von jedem… auf geht’s.
Ich fokussiere mich einmal auf das ursprüngliche Problem des verpflichtenden Tragens des Regenbogen-Trikots. Ich bin in diesem Fall bei @anon19834089, @wohlfarth und @willythegreat.
Es ist ethisch meiner Meinung nach problematisch, als Organisation von den von ihr in einem bestimmten Kontext abhängigen Individuen eine weltanschauliche Äußerung zu verlangen, die außerhalb des Kernbereichs der durch diesen Kontext beschriebenen zweckgerichteten Aufgabenerfüllung liegt oder in der Teilnahme der Organisation inhärent angelegt ist, wenn dies vorher nicht durch die Betroffenen selbst legitimiert wurde.
Auf Deutsch: Ich finde es problematisch, dass die Ligue 1 durch ihr Trikot-Dekret von ihren Spielern eine aktive Positionierung in einer gewissen weltanschaulichen Frage verlangt, unter der Prämisse, dass Sie sich vorher dafür nicht das Okay der Spieler eingeholt hat (etwa über eine Abstimmung mit Mehrheit oder so etwas).
Homophobie, Rassismus und so weiter äußern sich im Handeln. Wer zwar mit jeder Faser seines Körpers homophob oder rassistisch denkt, aber nie handelt (inklusive Sprechakten), ist unter praktischen Gesichtspunkten nicht homophob und kein Rassist*.
Wenn nun die Ligue 1 von ihren Spielern das Tragen eines bestimmten Trikots verlangt, das eindeutig als Statement gegen Homophobie zu lesen ist, wird jeder einzelne Spieler dazu gezwungen, sich aktiv zu diesem Sachverhalt zu verhalten. Entweder er macht mit - oder nicht. Macht er mit, ist der Vorgang im Ergebnis unproblematisch (anders als der Vorgang selbst), macht er aber nicht mit, muss seine Entscheidung vor dem Hintergrund der Pflicht als eine aktive Positionierung gegen Anti-Homophobie gesehen werden und kann damit folglich als homophobe Handlung interpretiert werden.
Erschwerend hinzu kommt, dass jetzt die Vereine ihrerseits diese als homophob interpretierbaren Handlungen der Spieler nicht einfach so stehen lassen können, wenn sie sich nicht selbst sozusagen durch Unterlassung dem Homophobieverdacht aussetzen wollen. Nun sind sie es, die gezwungen sind, sich aktiv gegen ihre Spieler zu positionieren, sie gegebenenfalls für eine Zeit zu suspendieren oder zu entlassen oder etwas dieser Art, wenn sie nicht in den Ruch kommen wollen, Homophobie zu unterstützen, mindestens aber schulterzuckend zu billigen.
Am Ende steht somit eine Kaskade erzwungener weltanschaulicher Äußerungen, aus denen mehrere Parteien als Verlierer hervorgehen. Am schwerwiegendsten sind die Folgen für die Spieler, die nun öffentlich und ohne ihr initiatives Handeln als homophob gelten.
Angenommen die Spieler, die sich gegen das Tragen des Trikots entschieden haben, hätten in ihrem ganzen Leben keine einzige homophobe Handlung vorgenommen oder Äußerung getätigt, so gelten sie jetzt doch als homophob, während die identischen Spieler in einer identischen Parallelwelt, in der es lediglich die Aktion der Ligue 1 nicht gegeben hätte, niemals als homophob gegolten hätten.
Damit ähnelt die Aktion ganz frappierend einer aufgezwungenen Gesinnungsprüfung, der der Einzelne, wenn er nur falsches denkt, nicht ohne Schaden für sich selbst zu nehmen entkommen kann, auch wenn er sich in seinem ganzen Leben in seinem Handeln moralisch nichts zu schulden kommen lässt. So eine Gesinnungsprüfung halte ich als liberaler Mensch für ethisch höchst begründungsbedürftig und in den meisten Fällen nicht akzeptabel.×
Die Gedanken sind frei, man soll die Leute nach ihren Taten beurteilen. Diese Möglichkeit ist den betroffenen Spielern durch die ohne zuvor ihre Zustimmung einzuholen auferlegte weltanschauliche Pflichtäußerung, die mit ihrem eigentlichen Metier, dem Fußballspiel, nichts zu tun hat, (Prämisse) der Ligue 1 für immer genommen worden.
*Deshalb halte ich auch @wohlfarths Idee der Durchführung einer Gewissensprüfung an der Grenze für verfehlt, denn solange sich die Leute, die nach Deutschland kommen, an die deutschen Gesetze halten, sollen sie denken können, was sie wollen.
×Ich habe schon einige der Gesinnungssprüfungs-Aktionen von russischern Künstlern, Sportlern und anderen Personen des öffentlichen Lebens im letzten Jahr für übertrieben und grenzwertig, ja oft exzessiv gehalten. Das war ethisch zum Teil höchst fragwürdig.
EDIT: Behelfsmäßig um einen wichtigen Gedanken im Mittelteil ergänzt.