Und hier nochmal eine Zusammenfassung aus einer anderen Quelle, ob Fabian denn überhaupt sehen konnte, wollte, musste, dass Kimmich da am Boden liegt.
https://d-nb.info/972319263/34
Das ist eine ausgezeichnete Beobachtung und eine zentrale Frage, die an der Schnittstelle von Psychophysiologie, Wahrnehmungspsychologie und Kognitionspsychologie liegt.
Die kurze Antwort lautet: Ja, es ist absolut möglich, dass der Spieler den Treffer im entscheidenden Moment nicht bewusst wahrgenommen hat, selbst wenn der am Boden liegende Spieler in seinem Sichtfeld war. Genauso ist es möglich, dass er es bewusst ignoriert, um psychologischen Stress (kognitive Dissonanz) zu bewältigen.
Es gibt zwei primäre Erklärungsmodelle für dieses Verhalten, die sich nicht gegenseitig ausschließen:
- Das psychophysiologische Modell: „Tunnelblick“ und Wahrnehmungsblindheit
- Das kognitive Modell: Absicht und Dissonanzreduktion
Hier ist eine detaillierte Analyse beider Möglichkeiten.
1. Die psychophysiologische Erklärung: „Ich habe ihn nicht gesehen.“
Das Phänomen, das Sie als „biochemische Erklärung“ anfragen, ist in der Sportpsychologie gut dokumentiert. Es ist ein direktes Resultat von extrem hohem Arousal (Stress, Adrenalin) auf die menschliche Wahrnehmung.
- Der „Tunnelblick“ (Attentional Narrowing): Wenn der Körper in einen hohen Stresszustand (Kampf-oder-Flucht-Modus) gerät, wird Adrenalin ausgeschüttet. Dies löst ein uraltes Überlebensprogramm aus, das den Fokus extrem verengt. Psychologisch wird die Wahrnehmung auf das eingeschränkt, was das Gehirn in diesem Moment als überlebenswichtig oder aufgabenrelevant einstuft. Alles andere wird aktiv „ausgeblendet“.
- Wahrnehmungsblindheit (Inattentional Blindness): Dieses Konzept beschreibt die Unfähigkeit, ein Objekt oder Ereignis bewusst wahrzunehmen, obwohl es sich direkt im Sichtfeld befindet, weil die Aufmerksamkeit auf eine andere Aufgabe gerichtet ist. Studien haben gezeigt, dass hohe körperliche Belastung – wie sie im Profisport auftritt – die Wahrscheinlichkeit für „Inattentional Blindness“ signifikant erhöht.
- Selektive Wahrnehmung: Das Gehirn eines Athleten im Wettkampf ist darauf trainiert, irrelevante Reize auszublenden, um die relevanten Reize (z. B. Ball, Mitspieler, Tor) zu verarbeiten.
Im Kontext Ihrer Frage bedeutet das: Der Spieler, der den am Boden liegenden Gegner trifft, könnte sich in einem extremen „Tunnelblick“ befinden. Sein Gehirn ist möglicherweise ausschließlich auf das Spielgerät (z. B. den Ball), den nächsten Gegenspieler oder das Tor fokussiert.
Selbst wenn der am Boden liegende Spieler „im Sichtfeld“ ist, wird er vom Gehirn als „nicht-relevante Information“ eingestuft und nicht bewusst verarbeitet. Der Tritt selbst könnte ein motorischer Fehler sein (wie im Hauptbericht unter „Adrenalin-Faktor“ beschrieben) , und die fehlende Wahrnehmung des Treffers ist die Folge des „Attentional Narrowing“. Das „Weitergehen ohne Umschauen“ wäre in diesem Fall kein bewusster Akt der Ignoranz, sondern die logische Konsequenz dessen, dass in der subjektiven Wahrnehmung des Spielers kein relevanter Kontakt stattgefunden hat.
2. Die kognitive/psychologische Erklärung: „Ich will es nicht gesehen haben.“
Die Alternative ist, dass der Spieler den Treffer sehr wohl wahrgenommen hat (entweder als Unfall oder mit Absicht). Sein Verhalten danach (das Nicht-Umschauen) ist dann ein psychologischer Abwehrmechanismus.
- Kognitive Dissonanz: Diese Theorie beschreibt den unangenehmen mentalen Zustand, der entsteht, wenn das eigene Verhalten im Widerspruch zum eigenen Selbstbild steht. Die meisten Athleten sehen sich selbst als faire, gute Sportler. Ein bösartiges oder auch nur ein ungeschickt-fahrlässiges Foul, bei dem ein am Boden liegender Spieler getroffen wird, steht in massivem Widerspruch zu diesem Selbstbild.
- Dissonanzreduktion: Um diesen mentalen Stress aufzulösen, muss das Gehirn die Realität „zurechtbiegen“. Das „Nicht-Umschauen“ ist eine hochwirksame (wenn auch unbewusste) Strategie zur Dissonanzreduktion:
- Es verhindert die Aufnahme weiterer Informationen (z. B. den Schmerz des Gegners zu sehen), die die Dissonanz („Ich habe etwas Schlimmes getan“) weiter erhöhen würden.
- Es erlaubt dem Spieler, die Handlung nachträglich zu verharmlosen oder zu rechtfertigen („War nicht so schlimm“, „Er hat simuliert“).
Im Kontext Ihrer Frage bedeutet das: Das „Weitergehen ohne Umschauen“ ist hier ein Akt der Vermeidung. Der Spieler schützt sein eigenes Selbstbild, indem er sich der Konfrontation mit den Konsequenzen seines Handelns entzieht.
Synthese: Was ist wahrscheinlicher?
Es ist unmöglich, von außen mit Sicherheit zu sagen, welcher Mechanismus abläuft. Beide sind plausibel:
- Szenario A (Unbewusst): Der Spieler ist im „Tunnel“ (hohes Adrenalin). Er trifft den Gegner durch einen motorischen Fehler, nimmt den Treffer aber aufgrund von „Inattentional Blindness“ nicht bewusst wahr und läuft weiter, weil seine Aufmerksamkeit bereits beim nächsten Spielzug ist.
- Szenario B (Bewusst/Ignoriert): Der Spieler handelt mit Absicht (feindselig oder instrumentell). Das „Nicht-Umschauen“ ist eine nonverbale Demonstration von Kaltblütigkeit und Dominanz.
- Szenario C (Kognitive Dissonanz): Der Spieler bemerkt den (wahrscheinlich unbeabsichtigten) Treffer, der ihm „peinlich“ ist oder seinem Selbstbild widerspricht. Das „Nicht-Umschauen“ ist eine unbewusste Dissonanzreduktion, um den mentalen Konflikt zu bewältigen.
Die von Ihnen beobachtete Handlung – das „auf den Boden schauen“ – ist ebenfalls mehrdeutig. Es kann bedeuten: „Oh nein, was habe ich getan?“ (Schuld/Dissonanz), „Ist er okay?“ (Empathie) oder „Habe ich ihn richtig erwischt?“ (Bestätigung der Absicht).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die menschliche Wahrnehmung unter extremem Stress und hoher körperlicher Belastung hochgradig fehleranfällig ist. Die Annahme, dass ein Spieler alles „sieht“, was sich in seinem Sichtfeld befindet, ist nachweislich falsch.
