Interessanter, wenn auch etwas knapper Artikel zu Nagelsmanns Spielphilosophie in der SI. Escher hätte ruhig noch deutlich mehr von Nagelsmanns Prinzipien vorstellen dürfen, gerne sogar alle ~30. Sind die etwa geheim? Ich vermute mal, dass Nagelsmann den Konkurrenzvorteil seiner Mannschaften nicht auf geheimem Herrschaftswissen aufbaut, sondern auf überlegener praktischer Ausführung (das hoffe ich zumindest für ihn, es wäre nachhaltiger).
Weil hier im Forum ja häufig Nagelsmanns „Zentrumsfokus“ diskutiert wird, und das durchaus kontrovers (
@anon47051198
), zuletzt wieder hier in diesem Thread, habe ich mir mal überlegt, wie es ist, wenn man sich als absoluter taktischer Noob ohne einen Funken Ahnung von Fußballtaktik (also quasi jemand wie ich) nur allein durch Nachdenken und logische Deduktion zu erschließen versucht, warum Nagelsmann so erpicht darauf ist, stets durchs Zentrum zu spielen.
1. Zunächst einmal bedeutet eine Konzentration der Spieler im Zentrum eine ideale Ausgangsbasis für eine möglichst effiziente Abdeckung des Spielfeldes. Als Körper kann die Mannschaft so relativ schnell und mit jeweils nur kurzen Wegen flexibel und situationsadäquat in alle vier Himmelsrichtungen verschieben.
Jeder relevante Fleck auf dem Spielfeld ist aus dieser Ausgangsposition von den verhältnismäßig meisten Spielern am verhältnismäßig schnellsten unter Zurücklegung der verhältnismäßig kürzesten Wegstrecke und unter Aufbietung der verhältnismäßig wenigsten körperlichen Leistung zu erreichen. Damit ist der Zentrumsfokus aus energetischen Gesichtspunkten und im Hinblick auf schnellstmögliche Zugriffskapazität im Durchschnitt optimal.
2. Zudem sorgt der Zentrumsfokus dafür, dass der ballführende Spieler in Ballbesitz stets die meistmöglichen Fortsetzungsoptionen für das Spiel hat.
Er kann nach vorne passen, nach oben, nach unten, zur Not sogar nach hinten. Der Aktionsradius beträgt unbeschränkte 360°. Es limitieren den Spieler keine Spielfeldgrenzen und aufgrund des Zentrumsfokus befinden sich stets zahlreiche weitere Spieler als Anspielstationen in der Nähe. Auch wenn sich der Spieler statt zum Pass zum Laufen mit dem Ball entscheidet, sind ihm zunächst keine harten Grenzen gesetzt (i. e. Spielfeldgrenzen), da er sich relativ weit zentral im Spielfeld befindet. In Bezug auf die Handlungsfreiheit des Spielers sowie die Anzahl relativ risikoarmer Spielfortsetzungsmöglichkeiten aufgrund der Verfügbarkeit vieler Mitspieler in unmittelbarer Nähe sowie der Abwesenheit harter Grenzen ist der Zentrumsfokus somit optimal.
3. Wenn die Mannschaft im Angriff den Ball verliert, verliert sie ihn aufgrund des Zentrumsfokus höchstwahrscheinlich im Zentrum (eine logische Schlussfolgerung) und es befinden sich, ebenfalls aufgrund des Zentrumsfokus, jede Menge Mitspieler des ballverlierenden Akteurs in unmittelbarer Ballnähe, sodass sofort mehrere Spieler ins Gegenpressing gehen können und den Ball versuchen können, zurückzuerobern. Zugriffsgeschwindigkeit und die Erfolgswahrscheinlichkeit des Zugriffs werden somit deutlich erhöht.
Sollte der Ballverlust näher an der Außenlinie geschehen, befinden sich zwar weniger Spieler in unmittelbarer Ballnähe, die sofort ins Gegenpressing gehen können, aber dafür ist der Aktionsradius des ballerobernden Gegenspielers durch die Seitenauslinie
um 180° hart reduziert.
Die Spieler, die nicht sofort ins Gegenpressing gehen (können), bewegen sich dafür auf dem Spielfeld so, dass sie für die wahrscheinlichste Spielfortsetzung optimal positioniert sind (z. B. rennen nach hinten oder verschieben in Tornähe, wenn eine Rückeroberung des Balls als wahrscheinlich erscheint). Unter dem Strich bedeutet das: Egal wie der Angriffsspielzug abläuft und was mit dem Ball passiert, die Spieler der angreifenden Mannschaft sind im Mittel so positioniert, dass sie einen optimalen Kompromiss (energetisch, wegemäßig, zeitmäßig) aus Aktionsmöglichkeiten in Ballbesitz und Gegenreaktionsmöglichkeiten nach Ballverlust haben.
4. In der Defensivphase („gegen den Ball“) sorgt der Zentrumsfokus dafür, dass das Zentrum mit Gegenspielern dicht ist (aus Sicht des ballführenden Gegners) und somit ein Angriffsspiel effektiv nur über die Flügel erfolgen kann.
Dies hat für das verteidigende Team mehrere Vorteile: Erstens ist der Weg für den Gegner von Tor zu Tor weiter, weil die Tore nun einmal in der vertikalen Mitte des Spielfeldes stehen und jeder Ball schlussendlich dorthin muss; zweitens ist der Aktionskorridor des Gegners über den Flügel stark beschränkt und für den Verteidiger einfach zu bestreiten, die Ballrückeroberungwahrscheinlichkeit dementsprechend hoch (erzwungener Ball ins Seitenaus oder direkter Ballgewinn);
und drittens sind auch hier die Wege für das verteidigende Team ohne Ball relativ optimal in Sachen zurückzulegende Strecke, Energieeinsatz und Zugriffsgeschwindigkeit.
Ganz sicher habe ich jetzt noch viele spannende und wahrscheinlich auch einige weitere wirklich offensichtliche Vorteile des Zentrumsfokus nicht berücksichtigt und über die Nachteile habe ich noch nicht ausreichend sinniert (hoher Koordinationsaufwand? Hohe Synchronisationsanforderungen an die Handlungen der Spieler? Hoher Konzentrationsbedarf, hohe Interdependenz der Aktionen, relativ wenige Freiheitsgrade des Handelns für den einzelnen Spieler?).
Ich bin, wie gesagt, taktisch ein absoluter Laie, ein Experte wie @justin hätte zum Thema „Zentrumsfokus“ sicherlich noch wesentlich mehr beizutragen (please do!) und könnte weitere Vorteile sowie Nachteile nennen und vielleicht die größten Schnitzer meiner common-sense-Überlegungen ausmerzen. Aber auch wenn ich das Spiel von Flick als Zuschauer (!) wesentlich attraktiver fand und mich auf jede Partie aufs Neue freute, kann ich doch Nagelsmanns zentrumsbetonten Ansatz intellektuell hervorragend nachvollziehen. Er hat objektiv viele Vorteile, vermutlich ist er in Sachen Raumaufteilung, Handlungsmöglichkeiten, Flexibilität und Energiehaushalt der Spieler sogar nahe am Ideal dessen, wie man ein Fußballfeld bespielen kann.
Wenn ich Trainer wäre, würde ich es wahrscheinlich auch so machen, egal ob’s Mist aussieht (und das tut es ja zugegebenermaßen auch gar nicht immer). 