Miasanrot sucht Autor*innen und Social-Media-Betreuung rund um den FC Bayern

Vielen Dank, @pqr, für Deine interessanten sprachwissenschaftlich grundierten Ausführungen zur Berechtigung des Genderns, die ich mit Gewinn gelesen habe.

Eine Sache jedoch, die mir aus Deinen Ausführungen nicht ganz klar geworden ist, interessiert mich noch: Verstehst Du die Sprachwissenschaft als eine deskriptive oder normative Wissenschaft, d. h. eine Wissenschaft, die sprachliche Phänomene der Wirklichkeit empirisch oder spekulativ theoretisierend beschreibt (und somit sozusagen zeitlich nachläufig ist) oder eine Wissenschaft, die für ihre empirischen oder theoretischen Erkenntnisse normativen Geltungsanspruch für alle Sprecher erhebt (und somit sozusagen zeitlich vorläufig ist)?

Wenn sich also Wissenschaftler auf sprachwissenschaftliche Studien berufen, um ihre je eigene Haltung als die „richtige“ zu untermauern, ob nun pro oder contra Gendern, ist dies dann grundsätzlich überhaupt die richtige Herangehensweise an das Problem? Dürfen sprachwissenschaftliche (empirische) Erkenntnisse einen normativen Anspruch begründen?

In Anlehnung daran: Inwiefern ist logische Konsistenz des Sprachgebrauchs in der Sprachwissenschaft ein Wert an sich? Du zeigst sehr anschaulich am Beispiel des Wortpaares „Tag“ und „Nacht“, dass ein bestimmtes Wort je nach intentionalem Kontext vom Rezipienten ohne Anstrengung unterschiedlich verstanden wird. Inwiefern stellt es für die Sprachwissenschaft ein Problem dar, dass dieses Phänomen der „inklusiven Opposition“ bei Wortpaaren im Kontext der Bezeichnung und Anrede von Personen nicht in der gleichen Weise funktioniert bzw. als zu überwinden problematisiert wird?

Schließlich, wenn ich fragen darf (sonst einfach ignorieren), wo, abgesehen möglicherweise von ästhetischen Gesichtspunkten, siehst Du persönlich das größte Problem des gegenwärtigen Sprachwandels weg vom generischen Maskulinum hin zu einer „inklusiveren“ Form von Sprache? Und wo siehst Du das größte Problem aus sprachwissenschaftlicher Sicht?

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Auch wenn sich die Frage von Alex explizit an pqr richtet, würde ich doch gerne einen Kommentar dazu abgeben.
Die Idee des Genderns beruht doch im Wesentlichen auf zwei Grundannahmen:

  1. Die bisherige Sprache reflektiert die (nicht sachlich zu rechtfertigende) Männerdominanz in vielen Bereichen der Gesellschaft; speziell das generische Maskulinum führt laut Studien automatisch bei der Mehrheit zu der Vorstellung, dass über männliche Personen gesprochen / geschrieben wird.
  2. Die Einführung einer neuen, gendergerechten Sprech- und Schreibweise führt automatisch zu einer veränderten Wahrnehmung (und mittelfristig Geisteshaltung) in der Bevölkerung, weil die standardmäßige explizite Erwähnung von Männern, Frauen und non-binären Personen mittelfristig durch Gewöhnung eingeschliffene Denkmuster (Mann / Frau Stereotype) zum Verschwinden bringt.

Der Beitrag von pqr liefert wissenschaftlich fundierte Argumente, dass die Prämisse 1) nicht zutrifft oder zumindest weit weniger gesichert ist als es in der aktuellen Diskussion gemeinhin behauptet wird - und appelliert an alle Seiten, nicht aus ideologischen Gründen unliebsame Studienergebnisse einfach zu verschweigen (vereinfacht gesagt).

Was ich aus dem Kommentar nicht herauslesen kann, ist eine Empfehlung für oder gegen das Gendern an sich; denn - und das betrifft Prämisse 2) - die Sprachwissenschaft ist eben (das ist meine persönliche Sicht) keine normative, sondern eine deskriptive Wissenschaft, die uns irgendwann in 20 oder mehr Jahren die Antworten geben kann, ob die Einführung einer „inklusiveren“ Form von Sprache (Zitat Alex) tatsächlich einen Wandel in den Köpfen der Menschen bewirkt hat.

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Entgegen meiner obigen Bekundung melde ich mich jetzt doch zurück. Niemand bezweifelt doch die „mitmeinende“, „geschlechtsneutrale“ Funktion des generischen Maskulinums - und nur das hat @pqr oben umständlich erklärt, was aber den Kern der Sache überhaupt nicht berührt. Im Grunde wird dadurch ein Popanz-Argument aufgebaut und dann „wissenschaftlich erledigt“. Die Bedeutung des generischen Maskulinums und seine Funktion waren ja niemandem unbekannt, was hier aber suggeriert wird.

Das Problem liegt darin, dass es immer noch grammatisch ein Maskulinum ist, und es bei der Bezugnahme auf Gruppen, die Männer und Frauen enthalten, somit die weiblichen Personen unter dem Maskulinum subsumiert. Der Tag/Nacht-Vergleich besagt hierzu gar nichts. Ich hatte deswegen auch von „männerorientierter VAGHEIT“ gesprochen - er hat in seiner Antwort jedoch nur „Männerorientiertheit“ adressiert, was nicht das Gleiche ist. DARIN besteht aber das Problem, nämlich in den Effekten, die das erzeugt, und die durch explizite Nennung z.B. der weiblichen Anredeformen („Kollegen und Kolleginnen“) kompensiert werden können. Ich denke, dazu gibt es Studien, die zeigen, welche positiven Auswirkung die paarigen Doppelbezeichnungen haben. Dass nun vorwiegend Frauen an solchen Studien interessiert sind - wen überrascht das? Es scheinen ja auch vorwiegend Männer zu sein, die den status quo erhalten wollen. Das sind dann natürlich die „Koryphäen“, die andern die „Feministinnen“.

Wenn also die erhobenen Behauptungen zutreffen, nämlich dass die Mehrheit das Gendern ablehnt, dann müsste man sich ja auch keine Sorgen machen, es wird sich nicht durchsetzen, gezwungen wird niemand.

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Und dann kamen die Universitäten. :smiley:

Inwiefern erlaubt die Feststellung, an den meisten Unis existiere keine Pflicht zum Gendern, die Aussage, es sei „erheblich umkämpft“?
Mal abgesehen davon, dass eine „Pflicht“ dazu wohl rechtlich kaum durchsetzbar wäre.

Das ist tatsächlich ein guter Punkt, den wir sehr lange verfolgt haben und nach wie vor verfolgen. Mit Jolle, Katrin, Louisa haben wir drei Frauen bei uns im Team, die allesamt leider aus unterschiedlichen privaten Gründen nicht mehr regelmäßig für uns schreiben. Eine weitere Frau wird dazustoßen bzw. ist es schon, das kann ich bereits verraten.

Die Gründe haben auch hier gesellschaftlichen Ursprung, meine ich. Fußball war über Jahrzehnte hinweg eine Männderdomäne, die entsprechend vererbt wurde. Es ist also schwerer, Frauen zu finden, die Bock auf all das haben. Und mit all das meine ich auch folgendes:

  • sich mit Leuten konfrontiert sehen in Kommentaren, die ihre Arbeit schon deshalb anders bewerten, weil sie eine Frau sind (lest mal Kommentare zu Posts, die über eine Schiedsrichterin im Männerfußball informieren, das ist furchtbar)
  • gegen Klischees anzukämpfen
  • sich öffentlich zu präsentieren
  • auf feminine Aspekte reduziert zu werden
    Und vieles mehr.

Ich könnte noch tiefer ins Detail gehen, wenn es ums investieren von Freizeit geht, will das aber nicht zu weit fächern. Nur so viel: Sich beruflich zu etablieren, fällt vielen Frauen deutlich schwerer als Männern. Und das liegt gewiss nicht an ihnen. Im Journalismus fallen euch wie viele Chefredakteurinnen ein? Qualität ist da. Ich arbeite mit einigen hervorragenden Journalistinnen zusammen. Redaktionen sind dennoch überwiegend männlich besetzt. Und jetzt könnten wir an den Anfang springen. Wie durchbricht man diesen Kreislauf? Indem man die Hürden versucht abzubauen. Das ist ein Kampf über viele Jahre. Einer, den Männer mitkämpfen sollten.

Wenn ich auch die verschiedenen Bewerbungen an Miasanrot in den letzten Jahren sehe, dann fällt mir auf, dass Männer sich viel selbstbewusster bewerben, weil sie sich nicht selten überschätzen. Während Frauen mit fantastischem „Profil“ sich eher mal gar nicht bewerben. Aus ganz verschiedenen Gründen.

Es ist ein sehr komplexes Thema, aber viele Ursachen haben einen gesellschaftlichen Hintergrund. Davon bin ich sehr überzeugt.

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Zitat aus dem von dir geposteten Artikel:
Ob es Dozenten freigestellt sei, geschlechtergerechte Sprache in Klausuren und Hausarbeiten einzufordern, beantworten 41 Hochschulen mit Ja und 74 mit Nein. Punktabzüge zu verhängen, falls solche Vorgaben missachtet werden, sei den Lehrpersonen nach Auskunft der meisten Hochschulen aber nicht erlaubt. Zehn Hochschulen räumten mit Verweis auf die Freiheit von Forschung und Lehre die Möglichkeit ein.

Wenn 74 Unis das nicht einräumen, dann heißt das ja wohl, dass die Dozenten eine geschlechtergerechte Sprache nicht einfordern dürfen, während dem gegenüber bei 41 diese Möglichkeit zugestanden wird. Das ist für mich noch kein Zeichen eines Kampfes - es wäre es, wenn z.B. die 41 Unis umgekehrt den Dozenten vorschrieben, eine „geschlechtergerechte Sprache“ müsse in Hausarbeiten für ihre Veranstaltungen etc. angewendet werden. Das tun sie aber nicht, sondern das bleibt in diesen Fällen freigestellt. Selbst dabei kann es nur bei 10 Unis eventuell zu negativen Auswirkungen auf die Benotung kommen - aber sind solche Fälle bekannt?

Ja, da haben auch schon einige gegen geklagt. Aber der häufigste Fall ist halt, dass ein Dozent, der Gendern befürwortet (und der Anteil ist an Unis wesentlich höher als in der Gesamtgesellschaft) das erstmal einfach verlangt und die meisten Studenten dann einfach (grummelnd) mitziehen - man wählt ja eh im Studium häufig den Weg des geringsten Widerstandes, wieso es also drauf ankommen lassen?

Könnte das eventuell auch daran liegen, dass die Natur es nur Frauen möglich macht Kinder zu gebären? Und sie zu stillen? Und dass die Natur es doch auch irgendwie so eingerichtet hat, dass Kinder sich anfänglich doch mehr zur Mutter hingezogen fühlen als zum Vater?
Klar, man kann das heutzutage alles irgendwie umgehen und regeln. Aber dieses „Handicap“ bleibt.

Es gibt in unserer Gesellschaft ganz sicher so manche „Handicaps“, aber Kinder gebären zu können, zählt sicher nicht dazu. Statt das als naturgegeben hinzunehmen, könnten sich alle Branchen, die Politik und die Gesellschaft eher fragen, wie man es Frauen, die übrigens nicht alle zugleich Mütter sind, ermöglicht, neben all der Care-Arbeit, die sie vom Patriarchat aufgebrummt bekommen, auch jeden nur erdenklichen Job auf Spitzen-Niveau auszuüben.

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Ich verstehe das Problem nicht ganz. Diesbezüglich geht es also nur um die Art einer Rechtschreibung, die sich der Dozent vorstellt, so wie sich die Dozenten an allen Unis ja auch vorstellen, dass man Wort und Grammatik beherrscht.
Ich persönlich fand das Deutsch zu Schopenhauers Zeiten ästhetisch am schönsten, ganz subjektiv. Würde ich heute aber eine Seminararbeit so abgeben, würde der Prof mir das um die Ohren hauen, also halte ich mich an die heutigen Regeln, oder auch nur an die des einzelnen Dozenten. In meinem Politologie-Studium herrschte eine gewisse ideologische „Schule“, und es war durchaus angeraten, seine Argumentation in wenig darauf abzustimmen - da wäre eine ideologische Beschwerde sehr viel sinniger gewesen.

Nein, ich bin da ganz bei @anon47051198’ Argumentation. All die sprachwissenschaftlichen Feinheiten beiseite gelegt, nicht uninteressant zweifelsohne, aber der Kern ist der, den @anon47051198 benannt hat.

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Deshalb Handicap auch in Anführungszeichen.

Und ich denke Frauen werden schon sehr viele Möglichkeiten geboten, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bekommen. Im Beamtentum sowieso, aber auch in der freien Wirtschaft können Frauen nach der Geburt wieder einsteigen wie sie es für gut empfinden und auch Karriere machen.
Aber mit Gewalt muss man nichts erzwingen.

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Hier ein mMn. ganz brauchbare Zusammenfassung der Aspekte pro und contra Gendern und ein Rekurs auf die juristischen Belange:

Und wer sich da noch mehr reinvertiefen will, hier ein link zu einer LINGUISTISCHEN Fachzeitschrift, die sich in mehreren Beiträgen dem Thema widmet. Es existiert eben nicht nur die EINE valide fachwissenschaftliche Position, wie suggeriert wurde, sondern es gibt auch in der Forschung, wie zu erwarten, einen Pluralismus der Perspektiven. So dürfte bei Berufsbezeichnungen eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben, dass sehr lange entweder ausschließlich oder überwiegend Männer berufstätig waren bzw. Frauen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit kaum repräsentiert waren. Dazu unten besonders der erste Beitrag.

https://pub.ids-mannheim.de/laufend/sprachreport/pdf/sr21-2.pdf

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wie passend - und vollkommen richtig

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Ich halte es mit Grönemeyer:
Kinder an die Macht

Auch vollkommen richtig

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Vielen Dank, @Alex, für Deine freundlichen, sachlichen Nachfragen, die ich deshalb gerne beantworte.
Ich bitte schon im vorhinein um Verzeihung für die Länge der Ausführungen. Sieh Dich in keiner Weise gehalten, ähnlich ausführlich zu antworten.

Eine Sache jedoch, die mir aus Deinen Ausführungen nicht ganz klar geworden ist, interessiert mich noch: Verstehst Du die Sprachwissenschaft als eine deskriptive oder normative Wissenschaft, d. h. eine Wissenschaft, die sprachliche Phänomene der Wirklichkeit empirisch oder spekulativ theoretisierend beschreibt (und somit sozusagen zeitlich nachläufig ist) oder eine Wissenschaft, die für ihre empirischen oder theoretischen Erkenntnisse normativen Geltungsanspruch für alle Sprecher erhebt (und somit sozusagen zeitlich vorläufig ist)?

Wie @gerhard bereits richtig bemerkt hat, verstehe ich die Sprachwissenschaft als eine deskriptive Wissenschaft. Das hat einerseits zur Folge, dass man (wie Du richtig und schon vorgreifend anmerkst) auf das Vorliegen von Daten angewiesen ist, um Änderungen zu beschreiben. Andererseits impliziert es, in die Sprache reglementierend nicht anders einzugreifen als durch die Codifizierung des Status quo (also durch die Erstellung deskrivtiver Grammatiken und ebenso deskriptiver Wörterbücher, anders als es etwa der Duden inzwischen betreibt und es die Rechtschreibreformer der ersten Stunde getan haben). Ein Eingreifen bleibt es freilich trotzdem, da jede Codefizierung den aktuellen Gebrauch stützt.

Im wesentlichen sind die Gründe für diese meine Ansicht erstens die Erfahrung, dass sich der Grund sprachlicher Strukturen meistens erst zeigt, wenn man sie sehr genau untersucht, diese Gründe meistens überraschend sind und in meinen Augen daher niemand ausreichend Überblick besitzt, alternative Strukturen zu konstruieren, die keine unerwünschten Auswirkungen haben (etwa die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten einzuschränken, Bedeutungen subtil zu verändern, …).
Zweitens sehe ich auch keine Quelle der Autorität für einen Wissenschaftler, einen sonstigen beliebigen einzelnen oder auch eine Teilmenge der Sprecher dafür, die Sprache in ihrem Sinne planvoll zu verändern, da die Sprache (als geteilte Praxis) allen Sprechern gehört. Selbstverständlich ist jeder frei, Vorschläge zu machen. Die historische Erfahrung zeigt aber, dass von solchen Vorschlägen im besten Falle ein Teil in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeht, und meistens nicht der Teil, der dem Proponenten besonders wichtig war. Das heißt, etwas findet nur dann Eingang in die Sprache, wenn es die Sprecher überzeugt, meistens weil es bestimmte Vorteile bietet (dazu gleich noch mehr), es sei denn, es gibt eine bestimmte Machtkonstellation, in der Änderungen durchgedrückt werden. Solche Änderungen von oben oder durch eine kleine Gruppe halte ich für illegitim.
Drittens scheint mir die Beschränkung der Sprachwissenschaft auf die Deskription dem wesentlichen Ergebnis der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts zu entsprechen. (Ich habe Wittgenstein ja schon genannt.) Insofern nimmt eine so verstandene Sprachwissenschaft einen konsistenten Platz unter den Geisteswissenschaften ein.
Und viertens waren in meinen Augen die Ergebnisse der Sprachwissenschaft immer dann besonders aufschlussreich, wenn sie deskriptiv waren. Das war schon im 19. Jahrhundert mit Hermann Paul so und ist heute nicht anders.

Ich würde hier mit Blick auf den Einwand, den Du vermutlich vor Augen hattest, noch eine oder zwei Einschränkung formulieren hinsichtlich des Nachlaufens der Wissenschaft hinter den Entwicklungen. Du hast natürlich recht, dass die so verstandene Sprachwissenschaft Neuerungen erst beschreiben kann, wenn sie in den Daten vorliegen, es also einen entsprechenden Sprachgebrauch gibt. Allerdings wandelt sich die Sprache (im Sinne von Sprachsystem) in aller Regek sehr langsam. Selbstverständlich werden dauernd neue Wörter geprägt, aber diese fügen sich so gut wie immer harmonisch in das schon vorhandene System ein. Echter Wandel (wie der Rückbau unregelmäßiger Flexion, die Reduktion von Flexionsendungen oder Genitivverben) geht so schleichend vor sich, dass die Sprecher ihn selten bemerken (außer wenn alte Menschen sich darüber aufregen, welch schlampiges Deutsch die Jugend doch spreche) und dass er bereits vor dem Abschluss der Entwicklung beschrieben werden kann.
Zweitens verfügen wir über sehr viele historische Daten und haben deshalb begründete Vermutungen, wohin die Sprachentwicklung gehen könnte. Die historische Erfahrung zeigt, dass in aller Regel Merkmale reduziert werden und das Sprachsystem vereinfacht. Daraus (und aus weiteren empirischen Untersuchungen) hat die Sprachwissenschaft bestimmte Prinzipien abgeleitet, etwa das der Ökonomie, also dass die Sprecher dazu tendieren (Tendenz! keine Notwendigkeit!), so wenig Aufwand wie möglich zur Artikulation ihrer Gedanken zu betreiben (um es einfach, aber zu psychologistisch auszudrücken).

Auf dieser Grundlage kann man Urteile darüber fällen, wie wahrscheinlich es ist, dass sich vorgeschlagene Neuerungen durchsetzen, sofern kein äußerer Druck ausgeübt wird. Solche Voraussagen hat es von der Sprachwissenschaft etwa bei der Rechtschreibreform gegeben. Viele Sprachwissenschaftler haben sich bereits vor 1996 zu Wort gemeldet mit dem Einwand, dass die Vorschläge nicht dem Stand der Forschung entsprächen und außerdem den zu beobachtenden Entwicklungstendenzen zuwiderliefen. Erwartbarerweise musste die Reform in großen Teilen revidiert werden. Erst vor wenigen Wochen ist man bei einigen Kommasetzungsregeln wieder zum Stand von vor 1996 zurückgekehrt.

Ähnliches könnte man über das Gendern sagen. Das heißt nicht, dass die Sprachwissenschaft die Änderungen, sofern sie sich durchsetzen, in Zukunft nicht beschreiben würde. Aber wenn man einmal von der Rechtschreibreform absieht, ist sie im deutschen Sprachraum ohne Präzedenz. Geändert werden soll nicht ein Detail (etwa dass man ein Wort nicht mehr benutzt), sondern die Grammatik selbst, mit gewaltigen, teils deutlich negativen Auswirkungen auf das Sprachsystem. Dafür sollte man gute Gründe vorbringen. In meinen Augen ist das nicht hinreichend der Fall. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass viele Studien, die von den Befürwortern des Genderns angeführt werden, methodisch unzureichend sind und insofern nicht als Argumente für eine Sprachreform dienen können.

Was mich dabei besonders stört, ist, dass die Studien oder Argumente sich nicht selten an der Grenze zur Desinformation bewegen – oder sogar jenseits davon. Um zwei Beispiele zu nennen: In einer vielzitierten Studie wurden Probanden acht Beispielsätze vorgelegt, um aus ihren Antworten abzuleiten, wie gut das generische Maskulinum funktioniert. Wenn man sich die acht Beispielsätze ansieht, stellt man fest, dass nur einer davon das generische Maskulinum dem Sprachgebrauch entsprechend benutzt (das sage nicht nur ich, das kann man auch nachlesen bei Fabian Payr, Von Menschen und Mensch*innen, Wiesbaden 2021, S. 31). Oder vielleicht das schlagendste Beispiel: Du kennst vielleicht das vielzitierte Sprachrätsel mit dem Chirurgen, der seinen Sohn nicht operieren möchte (siehe etwa hier auf S. 7: https://www.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/gleichstellung/Publikationen/Leitfaden_gendergerechte_Sprache_UP-2012.pdf). Was geflissentlich verschwiegen wird, ist, dass das Rätsel nicht dem deutschen Sprachgebrauch entspricht, sondern vielmehr 1:1 aus dem Englischen übersetzt wurde. Nun wundert man sich, wie das sein kann, da es im Englischen an Substantiven in der Regel keine Genusmarkierung gibt. Der Witz ist, dass das Rätsel von einem (wenn ich mich recht erinnere) Psychologen entworfen wurde, der zeigen wollte, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse einen selbst bei sprachlich völlig neutralen Formulierungen zu Fehlinterpretationen führen können. Sprich: Es handelt sich um einen ganz anderen Fall, nämlich um einen, der gegen den grassierenden Sprachrealismus gerichtet ist, der belegen soll, dass eine Reform der Sprache allein die Probleme nicht löst. Dieses Beispiel wird nun durch eine irreführende Übersetzung in sein Gegenteil verkehrt. Ich hoffe, es ist offensichtlich, was ich daran auszusetzen habe.

Um das ganze noch mit wissenschaftlich zu hinterlegen: Eine in meinen Augen methodisch überzeugende Studie mit wohlkonstruierten Beispielsätzen (wenn auch nicht gar so vielen Probanden) hatte zum Ergebnis, dass maskuline Plurale im Deutschen von 97 % der Probanden als neutral verstanden wurden, maskuline Singulare dagegen zu 83 % als männlich (Maarten De Backer, Ludovic De Cuypere: The interpretation of masculine personal nouns in German and Dutch, in Language sciences 34 (2012), S. 253–268). Es ist also völlig klar, warum das Rätsel so verstanden wird, wie es in der Regel passiert: Weil es genau den Fall betrifft, in dem Sprecher des Deutschen nur in Ausnahmefällen das Maskulinum generisch benutzen und es daher in diesem Kontext gesondert klargemacht werden muss, dass es neutral zu verstehen ist.

Das heißt, aktuell gibt es in meinen Augen keine überzeugende Hinweise darauf, dass die gegenderten Pluralformen inklusiver sind als die generischen, es gibt keine Evidenz dafür, dass die generischen Formen nicht verstanden würden, und eine Änderung hätte sprachsystematisch gravierende Folgewirkungen. Das sehen übrigens auch Feministinnen in anderen Ländern, die eng mit dem Deutschen verwandte Sprachen sprechen, so, etwa in den Niederlanden oder auf Island. Dort wurde vor längerer Zeit der Konsens gefunden, dass vielmehr das ständige Betonen des (natürlichen oder sozialen) Geschlechts in der Sprache als sexistisch zu betrachten sei. In meinen Augen geht es hier also nicht um einen Konflikt zwischen dem Feminismus und unverbesserlichen Antifeministen, sondern um die Frage, inwiefern man bereit ist, die vorliegenden Erkenntnisse zu gewichten.

Oder um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die deskriptiven Erkenntnisse der Sprachwissenschaft werfen ein Schlaglicht auf die präskriptiven Forderungen der Genderbefürworter, das diese nicht wohlbegründet aussehen lässt.

Ich hoffe, ich habe Deine Fragen alle beantwortet. Wenn ich etwas übersehen habe, hake bitte noch einmal nach.

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Die Bedeutung des generischen Maskulinums und seine Funktion waren ja niemandem unbekannt, was hier aber suggeriert wird.

Tatsächlich wird diese Bedeutung von Befürwortern des Genderns meistens bestritten. Wenn dies bei Dir nicht der Fall ist, frage ich mich, worin Dein Problem mit meiner Position besteht. Ich hatte doch bereits zugestanden, dass die Situation der Anrede anders zu bewerten ist als diejenigen Äußerungen, die man Propositionen nennt. Und gerade Dein Beispiel war ja keine Anrede, sondern eine Proposition. Oder verstehst Du auch Propositionen über Personengruppen als Anreden?

er hat in seiner Antwort jedoch nur „Männerorientiertheit“ addressiert, was nicht das Gleiche ist.

Nein, tatsächlich bin ich auch auf die Vagheit eingegangen und habe sie als gewollt eingeschätzt. Wenn Du unter der Kombination von beidem noch einmal etwas anderes verstehst, bitte ich darum, das genauer zu erklären, so dass ich darauf eingehen kann.

Ich denke, dazu gibt es Studien, die zeigen, welche positiven Auswirkung die paarigen Doppelbezeichnungen haben.

Ich habe nie behauptet, dass es keine Studien gäbe, die behaupteten, dass das generische Maskulinum nicht funktioniere. Ich habe behauptet, dass die, die ich kenne und dies tun, methodisch unzureichend sind. Es ist insofern kein Einwand gegen meine Position, wenn Du Studien aufzählst, sondern Du müsstest entweder meinen methodischen Einwand zurückweisen oder darlegen, inwiefern er auf eine Studie nicht zutrifft. (Das wäre sogar möglich, da ich eine andere Art von Studie nicht erwähnt habe, gegen die ich wiederum andere Einwände habe.)

Das sind dann natürlich die „Koryphäen“, die andern die „Feministinnen“.

Ich bitte um Verzeihung, wenn ich Personen, die sich selbst als Feministinnen bezeichnen, Feministinnen nenne.

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Ich glaube, der Unterschied ist, dass die Rechtschreibung codifiziert ist und insofern auf einer anerkannten Grundlage steht. Ansonsten kann ein Dozent in seinem Fachgebiet natürlich Vorgaben machen, wie sie ihm passen, solange er dahingehend die entsprechende Expertise hat. Die Frage ist nur, ob wirklich alle Dozenten, die ihren Studenten das Gendern abverlangen, über diese Expertise verfügen. Zumal die entsprechenden Leitfäden ja zumeist von den Gleichstellungsbeauftragten stammen, über die ich oben ja bereits gesprochen habe.

Übrigens stellen Deine weiteren Ausführungen Deinen früheren Dozenten kein gutes Zeugnis aus. Ich habe Studenten immer besonders geschätzt, die mir widersprochen haben, sofern sie gut argumentiert haben. Aber ich kenne natürlich auch andere Geschichte, da sind wohl alle Fächer gleich.

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Also wenn man sich empirisch an die Gendernfrage rantastet, dann ist das m.E. Symbolpolitik ohne wirklichen Effekt. Kann nicht erkennen, dass die Stellung der Frau in USA/UK soviel besser ist als in Deutschland. Französisch/Spanisch/Italienisch haben auch Formen des generischen Maskulins, und gefühlt ist da Frankreich besser als Deutschland, Italien aber eher schlechter.
Im Grund braucht man sich nur die Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland anschauen. Liegt dann doch eher an der Sozialisation/Gesellschaftspolitik als an der Grammatik.
Aber gut, Symbolpolitik kostet halt auch nix, Kitas zu bauen leider schon.

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Ich hatte ja schon einmal angemerkt, dass es wohl kaum so ist, dass alle Frauen, die sich der Genderforschung widmen, auch dezidiert als Feministinnen verstehen, womöglich hast du da genauere Informationen. Zum Thema Gendern hat die Gesellschaft für deutsche Sprache Leitlinien vorgelegt, die für mich einen relativ praktikablen Umgang mit dem Phänomen darstellen, sowohl den Strukturwandel der Öffentlichkeit berücksichtigen, jedoch auch „sprachpflegerische“ Anliegen im Blick haben:

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