Vielen Dank, @Alex, für Deine freundlichen, sachlichen Nachfragen, die ich deshalb gerne beantworte.
Ich bitte schon im vorhinein um Verzeihung für die Länge der Ausführungen. Sieh Dich in keiner Weise gehalten, ähnlich ausführlich zu antworten.
Eine Sache jedoch, die mir aus Deinen Ausführungen nicht ganz klar geworden ist, interessiert mich noch: Verstehst Du die Sprachwissenschaft als eine deskriptive oder normative Wissenschaft, d. h. eine Wissenschaft, die sprachliche Phänomene der Wirklichkeit empirisch oder spekulativ theoretisierend beschreibt (und somit sozusagen zeitlich nachläufig ist) oder eine Wissenschaft, die für ihre empirischen oder theoretischen Erkenntnisse normativen Geltungsanspruch für alle Sprecher erhebt (und somit sozusagen zeitlich vorläufig ist)?
Wie @gerhard bereits richtig bemerkt hat, verstehe ich die Sprachwissenschaft als eine deskriptive Wissenschaft. Das hat einerseits zur Folge, dass man (wie Du richtig und schon vorgreifend anmerkst) auf das Vorliegen von Daten angewiesen ist, um Änderungen zu beschreiben. Andererseits impliziert es, in die Sprache reglementierend nicht anders einzugreifen als durch die Codifizierung des Status quo (also durch die Erstellung deskrivtiver Grammatiken und ebenso deskriptiver Wörterbücher, anders als es etwa der Duden inzwischen betreibt und es die Rechtschreibreformer der ersten Stunde getan haben). Ein Eingreifen bleibt es freilich trotzdem, da jede Codefizierung den aktuellen Gebrauch stützt.
Im wesentlichen sind die Gründe für diese meine Ansicht erstens die Erfahrung, dass sich der Grund sprachlicher Strukturen meistens erst zeigt, wenn man sie sehr genau untersucht, diese Gründe meistens überraschend sind und in meinen Augen daher niemand ausreichend Überblick besitzt, alternative Strukturen zu konstruieren, die keine unerwünschten Auswirkungen haben (etwa die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten einzuschränken, Bedeutungen subtil zu verändern, …).
Zweitens sehe ich auch keine Quelle der Autorität für einen Wissenschaftler, einen sonstigen beliebigen einzelnen oder auch eine Teilmenge der Sprecher dafür, die Sprache in ihrem Sinne planvoll zu verändern, da die Sprache (als geteilte Praxis) allen Sprechern gehört. Selbstverständlich ist jeder frei, Vorschläge zu machen. Die historische Erfahrung zeigt aber, dass von solchen Vorschlägen im besten Falle ein Teil in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeht, und meistens nicht der Teil, der dem Proponenten besonders wichtig war. Das heißt, etwas findet nur dann Eingang in die Sprache, wenn es die Sprecher überzeugt, meistens weil es bestimmte Vorteile bietet (dazu gleich noch mehr), es sei denn, es gibt eine bestimmte Machtkonstellation, in der Änderungen durchgedrückt werden. Solche Änderungen von oben oder durch eine kleine Gruppe halte ich für illegitim.
Drittens scheint mir die Beschränkung der Sprachwissenschaft auf die Deskription dem wesentlichen Ergebnis der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts zu entsprechen. (Ich habe Wittgenstein ja schon genannt.) Insofern nimmt eine so verstandene Sprachwissenschaft einen konsistenten Platz unter den Geisteswissenschaften ein.
Und viertens waren in meinen Augen die Ergebnisse der Sprachwissenschaft immer dann besonders aufschlussreich, wenn sie deskriptiv waren. Das war schon im 19. Jahrhundert mit Hermann Paul so und ist heute nicht anders.
Ich würde hier mit Blick auf den Einwand, den Du vermutlich vor Augen hattest, noch eine oder zwei Einschränkung formulieren hinsichtlich des Nachlaufens der Wissenschaft hinter den Entwicklungen. Du hast natürlich recht, dass die so verstandene Sprachwissenschaft Neuerungen erst beschreiben kann, wenn sie in den Daten vorliegen, es also einen entsprechenden Sprachgebrauch gibt. Allerdings wandelt sich die Sprache (im Sinne von Sprachsystem) in aller Regek sehr langsam. Selbstverständlich werden dauernd neue Wörter geprägt, aber diese fügen sich so gut wie immer harmonisch in das schon vorhandene System ein. Echter Wandel (wie der Rückbau unregelmäßiger Flexion, die Reduktion von Flexionsendungen oder Genitivverben) geht so schleichend vor sich, dass die Sprecher ihn selten bemerken (außer wenn alte Menschen sich darüber aufregen, welch schlampiges Deutsch die Jugend doch spreche) und dass er bereits vor dem Abschluss der Entwicklung beschrieben werden kann.
Zweitens verfügen wir über sehr viele historische Daten und haben deshalb begründete Vermutungen, wohin die Sprachentwicklung gehen könnte. Die historische Erfahrung zeigt, dass in aller Regel Merkmale reduziert werden und das Sprachsystem vereinfacht. Daraus (und aus weiteren empirischen Untersuchungen) hat die Sprachwissenschaft bestimmte Prinzipien abgeleitet, etwa das der Ökonomie, also dass die Sprecher dazu tendieren (Tendenz! keine Notwendigkeit!), so wenig Aufwand wie möglich zur Artikulation ihrer Gedanken zu betreiben (um es einfach, aber zu psychologistisch auszudrücken).
Auf dieser Grundlage kann man Urteile darüber fällen, wie wahrscheinlich es ist, dass sich vorgeschlagene Neuerungen durchsetzen, sofern kein äußerer Druck ausgeübt wird. Solche Voraussagen hat es von der Sprachwissenschaft etwa bei der Rechtschreibreform gegeben. Viele Sprachwissenschaftler haben sich bereits vor 1996 zu Wort gemeldet mit dem Einwand, dass die Vorschläge nicht dem Stand der Forschung entsprächen und außerdem den zu beobachtenden Entwicklungstendenzen zuwiderliefen. Erwartbarerweise musste die Reform in großen Teilen revidiert werden. Erst vor wenigen Wochen ist man bei einigen Kommasetzungsregeln wieder zum Stand von vor 1996 zurückgekehrt.
Ähnliches könnte man über das Gendern sagen. Das heißt nicht, dass die Sprachwissenschaft die Änderungen, sofern sie sich durchsetzen, in Zukunft nicht beschreiben würde. Aber wenn man einmal von der Rechtschreibreform absieht, ist sie im deutschen Sprachraum ohne Präzedenz. Geändert werden soll nicht ein Detail (etwa dass man ein Wort nicht mehr benutzt), sondern die Grammatik selbst, mit gewaltigen, teils deutlich negativen Auswirkungen auf das Sprachsystem. Dafür sollte man gute Gründe vorbringen. In meinen Augen ist das nicht hinreichend der Fall. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass viele Studien, die von den Befürwortern des Genderns angeführt werden, methodisch unzureichend sind und insofern nicht als Argumente für eine Sprachreform dienen können.
Was mich dabei besonders stört, ist, dass die Studien oder Argumente sich nicht selten an der Grenze zur Desinformation bewegen – oder sogar jenseits davon. Um zwei Beispiele zu nennen: In einer vielzitierten Studie wurden Probanden acht Beispielsätze vorgelegt, um aus ihren Antworten abzuleiten, wie gut das generische Maskulinum funktioniert. Wenn man sich die acht Beispielsätze ansieht, stellt man fest, dass nur einer davon das generische Maskulinum dem Sprachgebrauch entsprechend benutzt (das sage nicht nur ich, das kann man auch nachlesen bei Fabian Payr, Von Menschen und Mensch*innen, Wiesbaden 2021, S. 31). Oder vielleicht das schlagendste Beispiel: Du kennst vielleicht das vielzitierte Sprachrätsel mit dem Chirurgen, der seinen Sohn nicht operieren möchte (siehe etwa hier auf S. 7: https://www.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/gleichstellung/Publikationen/Leitfaden_gendergerechte_Sprache_UP-2012.pdf). Was geflissentlich verschwiegen wird, ist, dass das Rätsel nicht dem deutschen Sprachgebrauch entspricht, sondern vielmehr 1:1 aus dem Englischen übersetzt wurde. Nun wundert man sich, wie das sein kann, da es im Englischen an Substantiven in der Regel keine Genusmarkierung gibt. Der Witz ist, dass das Rätsel von einem (wenn ich mich recht erinnere) Psychologen entworfen wurde, der zeigen wollte, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse einen selbst bei sprachlich völlig neutralen Formulierungen zu Fehlinterpretationen führen können. Sprich: Es handelt sich um einen ganz anderen Fall, nämlich um einen, der gegen den grassierenden Sprachrealismus gerichtet ist, der belegen soll, dass eine Reform der Sprache allein die Probleme nicht löst. Dieses Beispiel wird nun durch eine irreführende Übersetzung in sein Gegenteil verkehrt. Ich hoffe, es ist offensichtlich, was ich daran auszusetzen habe.
Um das ganze noch mit wissenschaftlich zu hinterlegen: Eine in meinen Augen methodisch überzeugende Studie mit wohlkonstruierten Beispielsätzen (wenn auch nicht gar so vielen Probanden) hatte zum Ergebnis, dass maskuline Plurale im Deutschen von 97 % der Probanden als neutral verstanden wurden, maskuline Singulare dagegen zu 83 % als männlich (Maarten De Backer, Ludovic De Cuypere: The interpretation of masculine personal nouns in German and Dutch, in Language sciences 34 (2012), S. 253–268). Es ist also völlig klar, warum das Rätsel so verstanden wird, wie es in der Regel passiert: Weil es genau den Fall betrifft, in dem Sprecher des Deutschen nur in Ausnahmefällen das Maskulinum generisch benutzen und es daher in diesem Kontext gesondert klargemacht werden muss, dass es neutral zu verstehen ist.
Das heißt, aktuell gibt es in meinen Augen keine überzeugende Hinweise darauf, dass die gegenderten Pluralformen inklusiver sind als die generischen, es gibt keine Evidenz dafür, dass die generischen Formen nicht verstanden würden, und eine Änderung hätte sprachsystematisch gravierende Folgewirkungen. Das sehen übrigens auch Feministinnen in anderen Ländern, die eng mit dem Deutschen verwandte Sprachen sprechen, so, etwa in den Niederlanden oder auf Island. Dort wurde vor längerer Zeit der Konsens gefunden, dass vielmehr das ständige Betonen des (natürlichen oder sozialen) Geschlechts in der Sprache als sexistisch zu betrachten sei. In meinen Augen geht es hier also nicht um einen Konflikt zwischen dem Feminismus und unverbesserlichen Antifeministen, sondern um die Frage, inwiefern man bereit ist, die vorliegenden Erkenntnisse zu gewichten.
Oder um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die deskriptiven Erkenntnisse der Sprachwissenschaft werfen ein Schlaglicht auf die präskriptiven Forderungen der Genderbefürworter, das diese nicht wohlbegründet aussehen lässt.
Ich hoffe, ich habe Deine Fragen alle beantwortet. Wenn ich etwas übersehen habe, hake bitte noch einmal nach.