Ich tue mich mit einer ethischen Bewertung des aktuellen Israel-Hamas-Konflikts enorm schwer.
Auf der einen Seite steht ein Terrorangriff mit den meisten ermordeten Juden an einem Tag seit dem Ende des Holocaust durch eine Organisation, deren ganze raison d’etre die Auslöschung des Staates Israel und die Gründung einer islamischen Republik auf dem gesamten Gebiet Palästinas ohne Israel ist und deren Führer mit ihren öffentlichen Äußerungen eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit vermuten lassen, dass sie, sollten sie und ihre Organisation nicht gestoppt werden, ihren heiligen Dschihad mit dem Ziel der Vernichtung Israels unverändert weiter fortsetzen und dabei auch auf Maßnahmen der Tragweite des Terroranschlags vom 7. Oktober zurückgreifen werden, wenn sie sie für das Vorantreiben ihrer Sache als nötig erachten.
Hinzu kommt, dass es für Israel womöglich nur einer Kombination aus Glück, Risikoaversion und mangelnder Koordination seiner Gegner zu verdanken ist, dass andere Spieler wie die Hisbollah die Gelegenheit nicht genutzt haben, mitten in das Chaos des 7. Oktober hinein (oder bereits im Vorfeld in Abstimmung mit der Hamas) Israel ebenfalls territorial anzugreifen. Denn viel mehr noch als durch die unzähligen Toten und das Chaos eines solchen Terroranschlags selbst sind Tage wie der 7. Oktober und die unmittelbar darauf folgenden eine Phase fundamentaler, existenzieller Bedrohung für Israel durch das Risiko, dass andere Parteien die Gunst der Stunde nutzen und sich dem Kampf gegen Israel anschließen. Es ist dieses Risiko, das einem Terroranschlag dieses Ausmaßes eine besonders existenzielle Bedrohlichkeit verleiht.
Ich denke, es ist vor diesem Hintergrund relativ einleuchtend, dass Israel den Fortbestand einer Organisation, die durch ihre Aktionen mittelbar und unmittelbar eine existenzielle Bedrohung für seine Staatlichkeit konstituiert, nicht einfach so hinnehmen und zur Tagesordnung übergehen kann, als wenn nie etwas gewesen wäre, nachdem diese Organisation soeben einen Terrorangriff der Größenordnung des 7. Oktober durchgeführt hat.
Dass Israel gegenwärtig also militärisch gegen die Hamas vorgeht und sie im besten Fall so weit dezimieren wird, dass sie einen solchen Terrorangriff kein zweites Mal mehr wird durchführen können, ist politisch als Signal der Handlungsfähigkeit und des unbedingten Handlungswillens nach innen und außen sowie existenziell im Interesse des eigenen Überlebens zwingend geboten.
Der Grund, warum ich sage, dass ich mich mit einer ethischen Bewertung des Konflikts zwischen Israel und der Hamas momentan so schwer tue, liegt also nicht in der Frage, ob Israel im Gazastreifen militärisch gegen die Hamas vorgehen darf (selbstverständlich, es muss dies sogar), sondern darin, wie es das macht. Dies ist das, was auf der anderen Seite steht.
Die Hamas „schwimmt“ in der Zivilbevölkerung, sie ist örtlich, zeitlich und personell sehr eng mit dem zivilen Gaza verwoben, ihre Kämpfer lassen sich weder optisch noch räumlich von der Zivilbevölkerung separieren und sie nutzt diesen Umstand und ihre Macht über die Zivilbevölkerung im Gazastreifen schamlos zu ihrem Vorteil aus, indem sie es - strategisch klug - Israel so schwer wie möglich macht, bei seinen Angriffen ausschließlich sie und nicht auch die Zivilbevölkerung zu treffen.
Dass es die Hamas Israel schwer bis unmöglich macht, bei seinem Vorgehen im Gazastreifen die Zivilbevölkerung zu schützen, entbindet Israel nicht von der Pflicht, es dennoch so gut wie möglich zu versuchen. Es besteht keine absolute Pflicht für Israel, bei seinem militärischen Vorgehen zivile Opfer zu vermeiden, aber eine relative. Die Zahl der zivilen Kollateralschäden eines militärischen Einsatzes muss in einem angemessenen Verhältnis zu den militärischen Zielen stehen, die damit erreicht werden. Alles andere als der Blick auf die Verhältnismäßigkeit der Zweck-Mittel-Relation in einem Kriegseinsatz ist ethisch eine unreife Haltung.
Im Angesicht der täglichen, enorm düsteren Nachrichten aus dem Gazastreifen, des täglich weiter steigenden Todeszolls in der palästinensischen Zivilbevölkerung und auch des schieren Ausmaßes der Zerstörung von Häusern und Infrastruktur stelle ich mir die Frage, ob Israels militärische Maßnahmen die Maßgabe der Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mittel in jedem Fall erfüllen.
Das erste Mal habe ich mir diese Frage damals bei der kompletten Unterbrechung der Wasserversorgung für den Gazastreifen schon kurz nach dem 7. Oktober gestellt, für die ich in Anbetracht der Grauenhaftgkeit des vorherigen Verbrechens emotional zwar Verständnis hatte, die aber rein ethisch betrachtet eigentlich nicht vertretbar war. Ähnlich gelagert ist die Frage, ob es ethisch vertretbar ist, dass Israel den Gazastreifen so weitgehend von Gütern des täglichen Bedarfs wie Wasser, Treibstoff, Nahrung und medizinischen Produkten abschneidet, dass sich Medienberichte über Menschen, die einander wegen eines Stücks Brots abstechen, Ärzte, die ohne Narkose operieren müssen und auf den Krankenhausfluren an einem Mangel elementarer Versorgung sterbende Menschen täglich mehren. Wie weit ist, wenn nicht die bewusste Herbeiführung, so doch die billigende Inkaufnahme solcher Zustände seitens Israels zur Erreichung seiner Kriegsziele verhältnismäßig?
Was den konkreten Todeszoll angeht, finde ich die von der UN berichtete Zahl von rund 10.000 zivilen Opfern im Gazastreifen, darunter gut 4.000 Kinder, die meisten davon das Resultat von israelischen Luftschlägen, in Anbetracht der Tatsache, dass im Norden des Gazastreifens, auf den der Löwenanteil der Luftschläge entfällt, über eine Million Menschen leben und die Luftschläge dort zudem geschätzt bereits zwischen 1/4 und 1/3 aller Gebäude zerstört haben (siehe Satellitenbild), sogar noch relativ niedrig und eine Zahl, die mir nahelegt, dass Israel bei der Wahl seiner Ziele und Mittel seiner ethischen Verpflichtung, bei seinen Militärschlägen zivile Kollateralschäden so gut wie möglich zu vermeiden, nachzukommen versucht.
(Quelle: New York Times)
Allerdings ist auch ohne horrende Todesopferzahlen das schiere Ausmaß der Zerstörung, das die obige Graphik zeigt, schon krass. Immerhin leben in diesem Gebiet Millionen Menschen und sollen auch weiter dort leben, wenn Israel den Kampf gegen die Hamas dereinst beendet hat. Ob wirklich bei jedem einzelnen der täglich Dutzenden air strikes, die die IDF fliegt, die Relation zwischen Zweck und Mittel stimmt? Oder wäre in manchen Fällen ein anderes, milderes Mittel oder sogar ein kompletter Verzicht auf den Einsatz ethisch die richtigere Entscheidung (gewesen)?
Exemplarisch für diese Frage, die man sich als ethisch reifer Mensch beim Lesen der Nachrichten aus dem Gazastreifen tagtäglich geradezu stellen muss, mag vielleicht der Luftschlag auf dem Gebiet des dichtbesiedelten Jabalia-„Flüchtlingslagers“ am 31.10. stehen, bei dem bei dem Versuch der Israelis, einen der Rädelsführer des Terroranschlags vom 7. Oktober zu eliminieren und Tunnel der Hamas zum Einsturz zu bringen, laut palästinensischen Angaben angeblich Dutzende, wenn nicht sogar über hundert palästinensische Zivilisten verwundet oder getötet wurden. War das verhältnismäßig? Hätte es zur Erreichung desselben Ziels einen milderes Mittel gegeben?
Ein anderes Beispiel sind die in den Medien dieser Tage immer häufiger berichteten und sich teilweise verheerend lesenden Angriffe der israelischen Luftwaffe - und inzwischen auch Bodentruppen - auf eine wachsende Zahl von Krankenhäusern im Gazastreifen, weil in und unter ihnen Kommandozentralen und Stützpunkte der Hamas vermutet werden, die dazu führen, das in diesen Krankenhäusern der Strom ausfällt, dort Menschen getötet werden, hilfsbedürftige Patienten nicht mehr versorgt werden können und sterben usw. Ist das verhältnismäßig? Israel verweist darauf, dass es Krankenhäuser in der unmittelbaren Einsatzzone immer und immer wieder auffordert, ihre Patienten in andere, sicherere Krankenhäuser in anderen Teilen des Gazastreifens zu evakuieren. Ist diese Aufforderung und der anschließende Schlag so oder so verhältnismäßig, wenn man sich die gegenwärtige Lage im Gazastreifen vor Augen führt?
Und von Angriffen wie den auf Jabalia und palästinensische Krankenhäuser gibt es in diesem Konflikt sehr, sehr viele. Sind solche Angriffe für Israel verhältnismäßig? Ich kann und möchte das gar nicht abschließend beurteilen und ich möchte hier auch nicht als bedingungsloser Apologet für die palästinensische Sache dastehen, denn die Notwendigkeit Israels, die Hamas zu zerstören, halte ich für ebenso unabdingbar und zwingend wie übrigens auch vollkommen selbstverschuldet seitens der Hamas, aber das manchmal sehr ungünstig aussehende Verhältnis von zivilen Opfern und militärischer Zielerreichung, der kriegsbedingte Zustand vieler Krankenhäuser und die weitgehende Abschneidung des Gazastreifens von Hilfsgütern und Wasser zeigen anhand einiger exemplarischer Ausschnitte des Geschehens wie durch ein Brennglas auf, von wie vielen ethischen Kompliziertheiten der Einsatz Israels im Gazastreifen gekennzeichnet ist und wie schwierig es für Israel ist, den schmalen Grat der Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren und sich nicht z. B. zur Vermeidung von Verlusten auf der eigenen Seite in die Akzeptanz übermäßig vieler ziviler Opfer auf palästinensischer Seite hineinlocken zu lassen (z. B. durch den Gebrauch von Luftschlägen, wo auch gezielte Kommandoaktionen am Boden möglich wären).
Übrigens, ich verfolge den Gazakonflikt sowohl in deutschen als auch internationalen Medien, dort vor allem in der New York Times, im Guardian, bei CNN und sonst fallweise dort, wo auch immer mich Google und Twitter hinleiten. Ich finde es so auffällig wie noch bei keinem anderen Ereignis von globalem Interesse in der jüngeren Vergangenheit, wie sehr sich die Berichterstattung, aber auch die politische Haltung und Einstellung zu dem Thema an sich, die sich in der Berichterstattung äußert, zwischen deutschen Medien und den internationalen, die ich überblicke, unterscheidet.
Etwas zugespitzt und mit Gefahr der Vereinfachung zusammengefasst ist mein Eindruck: Die deutsche Berichterstattung fällt sehr viel eindeutiger und einseitiger pro-israelisch aus als die (angelsächsische) internationale und ist im Vergleich wesentlich unkritischer bei der Bewertung des Vorgehens Israels im Gazastreifen, wohingegen die internationale Berichterstattung sehr viel „beidseitiger“ ausfällt und insbesondere in den Meinungsbeiträgen (Editorials, op eds, opinion pages etc.) sehr viel stärker als deutsche Medien auch einen Blick auf das palästinensische Leid wirft und deutlich kritischer im Umgang mit dem Vorgehen Israels im Gazastreifen ist. Die allgemeine öffentliche Meinung, die sich in solchen Demonstrationen wie den 300.000 Menschen gestern in London oder immer wieder auch bei größeren Demonstrationen in New York und anderen amerikanischen Großstädten äußert, scheint diese Differenz zwischen Deutschland und der Welt ebenfalls nachzuvollziehen. Wir Deutschen sind viel stärker pro-israelisch eingestellt als wahrscheinlich die meisten anderen Völker der Welt.