Da muss ich nochmal einsteigen, auch wenn es eigentlich der falsche Thread ist. Ich bleibe trotzdem hier in diesem (ja auch politischen) Thread, weil das Thema immer wieder aufflammt.
Ich konnte letztens zu diesem Thema, als @Alex seinen Post absetzte, nicht reagieren wegen Zeitmangel. Wenn ich mich allerdings recht entsinne, zielte sein Beitrag darauf ab, Scholz’ Zurückhaltung - also das, was du Vorsicht nennst - auf einen (den) möglichen Grund zurückzuführen. Er hat damit nicht gesagt, dass er persönlich diesen Grund teilt oder nachvollziehbar findet.
Letzteres flammt aber bei deinen Beiträgen als Erklärungsansatz auf.
Ich kann deine Logik nachvollziehen, stimme ihr aber nicht zu.
Zur Erklärung:
Über Jahrzehnte - seit das Wissen um den Bau einer Atombombe existiert - haben sich viele Politstrategen Gedanken um die Situation gemacht, wie sich Konflikte militärisch in einer Zeit darstellen, die Waffen einer solchen Wirkmacht auslösen.
Wie du als Historiker gut weißt, wurde daraus das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens. Pointiert zusammengefasst, bildet darin die Atombombe eine Waffe, deren Sinn genau darin besteht, nicht eingesetzt werden zu können. Im Wissen um die Folgen und da selbst kein Erstschlag die Gegenreaktion verhindern kann, oder wie FJS mal so schön gesagt hat:
Auf einem Massengrab lassen sich schlecht Siegesfeiern ausrichten.
Die Doktrin der Abschreckung bedeutete also nicht anderes als die Sinnlosigkeit, mit Atombomben zu drohen, sofern der Gegner auch welche hat.
Seit einigen Jahren nun scheint sich diese (auch ziemlich unbestechliche) Logik verändert zu haben. Vielleicht hatten wir zu lange Frieden, was weiß ich, aber die Menschen scheinen das irgendwie vergessen zu haben. Jetzt gilt plötzlich wieder die Logik (wie @jjs durchaus zurecht anspricht), dass man vor Putin begründet Angst haben muss - was der Atommacht Russland gegenüber automatisch eine strategisch schwache Haltung bedeutet. Und es ignoriert den rationalen Abschreckungseffekt, zieht die Debatte auf die irrational emotionale Ebene (man muss Angst haben).
Etwas Besseres kann Putin - der als veritabler Schurke gelten darf, aber kaum als irrationaler Akteur - gar nicht passieren, denn damit dreht man die Abschreckungsdoktrin durch den Fleischwolf und macht sie damit inexistent.
Im Übrigen teile ich nicht das allzu naive Narrativ, Putins Krieg ziele auf die Ukraine. Wer sich mit dem Denken und Handeln des Kreml-Chefs beschäftigt, sollte wissen, dass es hier um sehr viel mehr geht. Die Ukraine ist nur eine Etappe mit dem eindeutigen Ziel, den gesamten Westen, genauer: die liberalen Demokratien zu treffen, zu schwächen. Dieses Ziel teilt er mit sämtlichen Autokratien dieser Welt, und wie wir wissen, ist Russland dabei nicht mal die stärkste.
Ich empfehle wirklich jedem das kürzlich schon von @jep erwähnte neue Buch der Historikerin Anne Applebaum.
Im Klartext:
Putin und seine Kumpane in Peking, Nordkorea, Iran etc. befinden sich längst im Krieg mit dem Westen. Dies hat er auch schon deutlich und wenig subtil gesagt, und jede Reaktion des Westens, die auf Vorsicht und Angst und Irrationalität basiert (gleich auf welcher Seite diese Irrationalität verortet wird!), spielt ihm nur in die Karten.
Dieser Krieg wird auch keineswegs nur mit konventionellen Waffen ausgetragen, wie wir längst wissen - Stichwort hybride Kriegsführung.
Nun:
Ganz so schlicht ist es eben nicht. Dafür existieren Bündnisse wie die NATO u.a. - wenn wir sagen, ja, so funktioniert halt die Welt, könnten wir ja glatt aufhören, Bündnis-Politik zu betreiben. Das ist ja auch das, was ich im Disput mit @Alex schonmal ansprach:
Trump hat allein mit seiner Infragestellung einer militärischen Unterstützung für Bündnispartner schon die gesamte Sicherheitsarchitektur der letzten Jahrzehnte beschädigt. Und ebenso verhält es sich mit der Möglichkeit, dass Leute wie Scholz die Angst vor der atomaren Drohung zur Leitlinie ihrer Politik machen.
Dass letzteres übrigens sich so darstellt, halte ich nicht für ausgemacht, anders als @Alex’ damaliger Post es vermutet. Ich halte Scholz für nicht halb so schlau wie er sich selbst, aber als erfahrener Politiker sollte er zumindest wissen, warum unsere Welt die letzten Jahrzehnte halbwegs funktioniert hat. Ich hoffe sehr, dass er bessere Gründe hat(te), die Ukraine so spät/so wenig zu unterstützen wie geschehen. Allein, mir fällt gar kein besonders guter Grund ein, aber das ist nur meine persönliche Meinung.
Und zuletzt noch, weil wir uns ja im Israel/Palästina-Thread befinden:
Ich wäre da zurückhaltend mit solchen unterkomplexen Vergleichen. Mir fallen da binnen einer Minute so viele Unterschiede ein (ohne jetzt eine moralische Wertung zu machen), dass ich da einen noch längeren Beitrag verfassen müsste. Ich glaube auch, dass solche Vergleiche der jeweiligen Sachlage nicht gerecht werden können.
Übrigens schreibe ich all das im Bewusstsein, in Sachen Israel/Antisemitismus weitgehend deiner Meinung zu sein. Aber hier geht’s um Militär-und Außenpolitik.