Hallo, @Alex.
Deine Überlegungen bzw. Definitionsversuche klingen sehr gelehrt und überzeugend. Vermutlich würde ein Historiker (jedenfalls ein moderner bzw. heutiger - dazu weiter unten mehr…) tatsächlich ähnlich argumentieren; jedenfalls kann ich nichts Falsches an Deinen Darlegungen erkennen.
Außerdem bin ich ja genau so Laie wie Du, obwohl mich das Gebiet immer schon sehr interessiert hat und ich im Laufe meines Lebens sicher Hunderte von Büchern und Filmen zu historischen Themen gelesen/gesehen habe - aber, wie schon gesagt, alles nur als „Amateur“.
EIN Punkt springt mir aber dennoch sehr ins Auge. Und zwar, dass Du als Vertreter der jüngeren Generation ganz empirisch, sachlich, faktenbasiert und „Big Data“-mäßig argumentierst - wie es ja auch richtig ist.
Wenn Du, so wie ich, eine Generation älter wärst, wüsstest Du, dass in der frühen Geschichte der BRD bis etwa zum Zusammenbruch der kommunistischen bzw. sozialistischen Staaten wie Sowjetunion und DDR um 1990 herum die Historiker und Soziologen ganz anders argumentiert haben - nämlich von wenigen Ausnahmen abgesehen immer sehr ideologiegesteuert.
An der Universität, wo ich studiert habe, waren sicher um die 80-90% der Studenten und Professoren der Fächer Geschichtswissenschaft und noch mehr der Soziologie mehr oder weniger streng marxistisch orientiert.
Weil nämlich im Gegensatz zu heute fast die ganze Welt - und natürlich auch die Gelehrten - im Zeichen des Ost-West-Konflikts stand (die Berliner Mauer fiel etwa in der Mitte meines Studiums) und es in unserem Land einerseits die westlich, „kapitalistisch“, pro-amerikanisch orientierte und der NATO angehörige BRD und auf der anderen Seite des „eisernen Vorhangs“ eben den sogenannten „real existierenden Sozialismus“ à la DDR, die dem Militärbündnis Warschauer Pakt angehörte, gab.
Die DDR-Soziologen und -Historiker waren natürlich quasi schon per definitionem alle Marxisten (und mutierten dann nach der „Wiedervereinigung“ zu linken BRD-Wissenschaftlern) und, wie oben gesagt, die BRD-Soziologen/Historiker waren zu großen Teilen ebenfalls Marxisten und argumentierten „dialektisch“ auf der Grundlage des „Historischen Materialismus“ usw.
Praktisch keiner von denen hätte je CDU oder FDP gewählt.
Der grundlegende Unterschied zu Deiner aktuellen Wissenschaftsdefinition bestand darin, dass die Linke nicht so „induktiv“ vorging wie Du, sondern vielmehr zu großen Teilen „deduktiv“.
DU sammelst erst mal „empirische“ Fakten, wertest sie mathematisch aus und gelangst erst dann zu theoretischen Hypothesen, wie es ja auch richtig ist.
Die Marxisten hingegen gingen in deterministischer Weise VON EINEM GESETZMÄSSIGEN Verlauf der Geschichte aus, der - etwas vereinfacht - behauptete, die gesellschaftliche Entwicklung gehorche der Aufeinanderfolge "Urkommunismus - Feudalgesellschaft - frühe Industrialisierung mit Erstarken des nicht-adligen Bürgertums und dem „Frühkapitalismus“ - Hochzeit des Kapitalismus (vielleicht mit der zwischenzeitlichen Eskalation in Form des Faschismus als „terroristische Herrschaft des Finanzkapitals“).
Danach „erstickt der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen“, und es geht gesetzmäßig weiter mit Sozialismus wie in der DDR und ganz am Ende nach der „Weltrevolution“ Übergang in den Kommunismus.
An diese GESETZMÄSSIGE, weil von Marx vorhergesagte Entwicklung der Gesellschaft glaubten die Linken nicht nur in der DDR, sondern zu großen Teilen auch der BRD stärker als ein Christ an die Bibel.
Sie gingen also im Gegensatz zu Dir DEDUKTIV vor und suchten ziemlich selektiv nur Fakten, die dieser übergeordneten Theorie bzw. Ideologie entsprachen und sie zu bestätigen schienen.
Zum Entsetzen der braven deutschen Sozialisten und Kommunisten lehrte die Sowjetunion sie zwischen Oktoberrevolution und Ausbruch des 2. Weltkriegs sogar, man solle den Faschismus/Nationalsozialismus nicht ZU sehr bekämpfen (mit dem Kulminationspunkt des Hitler/Stalin-Pakts 1939-1941) und lieferten sogar ins „Mutterland des Kommunismus“ UdSSR geflohene deutsche Kommunisten postwendend wieder an die GESTAPO aus, da dieser Faschismus das gesetzmäßig NOTWENDIGE Endstadium des westlichen Kapitalismus darstelle und deshalb auf dem Weg zum Sozialismus und zur Revolution mit der „Diktatur des Proletariats“ nicht einfach übersprungen werden könne.
Und SO waren eben auch die BRD-Soziologen und -Historiker ausgerichtet.
Schon in meiner Schule waren - abgesehen vielleicht von 1-2 konservativen Latein- oder Deutsch-Lehrern praktisch alle Lehrer „Alt-68er“ (SDS, APO usw. und teilweise sogar Sympathisanten der linken Terrororganisation RAF).
Und als Student spielte ich in meinem Schachverein jahrelang zusammen mit einem berühmten Politologie-Professor, der sich über einen äußerst umfangreichen „Systemvergleich BRD versus DDR“ habilitiert hatte mit dem heute völlig absurd wirkenden „wissenschaftlichen“ Ergebnis, dass die DDR der BRD in praktisch ALLEN Bereichen (Wirtschaft, Justiz, Gesellschaft usw.) überlegen (!) sei, die BRD deswegen in Kürze an den inneren Widersprüchen des Kapitalismus zugrunde gehen und dann die DDR sich quasi die BRD einverleiben werde zu einem vereinigten sozialistischen Deutschland.
Bis mit dem Zusammenbruch der DDR, Sowjetunion usw. plötzlich das GANZ böse Erwachen kam, weil historisch genau das Gegenteil von dem eintrat, was die Marxisten postuliert hatten: DDR und UdSSR waren vollkommen pleite und gingen zugrunde, und der westliche „USA-Kapitalismus“ hat gesiegt.
Insofern finde ich Deinen Ansatz toll, weil Du als Vertreter der jüngeren Generation eben induktiv, empirisch und „evidence based“ argumentierst.
Du kannst mir als dem älteren aber ruhig glauben, dass das im letzten Jahrhundert noch völlig anders war und Fächer wie Soziologie, Politologie und Geschichte extrem „ideologisiert“ waren und deren Vertreter mit ihrem deduktiven bzw. ideologiegesteuerten Ansatz nur solche Fakten goutierten, die zu ihrer übergeordneten Theorie passten.
Die alles entscheidende GRUNDFRAGE lautet, ob die Geschichte und auch die Weltwirtschaft mit ihren intermittierenden Krisen nach GESETZMÄSSIGEN Abläufen (bei den Marxisten war es eben der fanatische Glaube an den FORTSCHRITT der Menschheit zu einer immer besseren, aufgeklärteren, gerechteren und rationaleren Welt) funktionieren oder aber rein von Zufällen regiert werden?
War z.B. der deutsche Nationalsozialismus zwangsläufig - mit Hitler als bloß austauschbarer Schachfigur einer geschichtlichen Entwicklung, die auch ohne einen Hitler sowieso gekommen wäre?
Oder aber hätte sich z.B. ohne die spezifische PERSON Hitler kein Drittes Reich und auch kein 2. Weltkrieg entwickelt?
Als Laie kann ich nicht sagen, was z.B. die Historiker diesbezüglich heute glauben. Oder ob Du z.B. von einer gesetzmäßigen Entwicklung der Weltwirtschaft mit vorhersehbaren Krisen, Börsencrashs usw. ausgehst?
Das ist alles, was mir zu Deinem Thema einfällt.
Da dies aber mit Fußball kaum etwas zu tun hat (abgesehen von „alternativgeschichtlichen“ Szenarien wie „Hätte sich der europäische Fußball anders entwickelt, wenn das „Wembley-Tor“ nicht gegolten hätte und Deutschland 1966 Weltmeister geworden wäre?“ oder eben "… der deutsche Fußball, wenn Schalke 04 2011 nicht nur „Meister der Herzen“ geworden wäre?), sollten wir die Diskussion wohl besser nicht weiter in diesem Thread diskutieren. Sondern, wenn überhaupt, dann entweder privat oder womöglich besser im Thread „Politik und Gesellschaft“.
Leider weiß ich nicht, wie eine solche Verschiebung in einen anderen Thread technisch funktioniert.
Dir jedenfalls noch einen schönen Tag, @alex.