Geschichte vs. Wissenschaft (das MSR-Feuilleton)

Ich glaube, ein Historiker könnte jetzt erwidern, dass das Wissenschaftliche an der Geschichtswissenschaft die methodische Erschließung historischer Sachverhalte auf der Basis von Quellen zum besseren Verständnis der menschlichen Geschichte ist, wobei die Auswahl der untersuchten Probleme, ihre Analyse und die Darstellung der Ergebnisse bestimmten disziplinären Standards bzgl. Überprüfbarkeit, Nachvollziehbarkeit etc. zu gehorchen haben.

Statt um Modelle, Hypothesen und überprüfbare Vorhersagen auf Basis der Auswertung quantitativer Daten wie in den Sozialwissenschaften geht es in der Geschichtswissenschaft vielmehr darum, die Komplexität und Kontingenz menschlichen Handelns aufzuzeigen und schlicht Wissen über unsere eigene Geschichte als Menschheit zu gewinnen, ohne dass daraus zwingend überprüfbare Hypothesen über zukünftiges menschliches Handeln abgeleitet werden können müssen.

Aussagen, die die Vorhersage menschlichen Handelns betreffen, wären dann statt

  • „Eine Anhebung des Verteidigungsbudgets um 3% erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Krieges in den nächsten zwei Jahren um 1,5% (1,2-1,8***)“ (Sozialwissenschaften)

eher

  • „In den Jahren vor dem ersten Peloponnesischen Krieg gab es in Athen unter Perikles einen deutlichen Anstieg der Militärausgaben, ebenso später in Makedonien unter Alexander vor seinem großen Feldzug. Es gibt historische Beispiele dafür, dass großen Kriegen ein Anstieg der Militärausgaben vorausgeht. Das kann wieder passieren.“ (Geschichtswissenschaft)

Die Sozialwissenschaften versuchen gesetzmäßige Kausalzusammenhänge aufzuzeigen, während die Geschichtswissenschaft menschliches Handeln in einem ganz konkreten Kontext zu verstehen versucht, ohne dass dies in „Immer wenn X, dann Y“-Aussagen mündet.

So in etwa, würde ich sagen (Experten, please weigh in! Ich bin nur Laie.)

Inwiefern Du diesen eher hermeneutischen Ansatz eines Verstehens gegenüber dem nomothetischen Ansatz des Herstellens von prädikativen Kausalzusammenhängen als Wissenschaft akzeptierst, bleibt natürlich Dir überlassen. :wink:

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Hallo, @Alex.

Deine Überlegungen bzw. Definitionsversuche klingen sehr gelehrt und überzeugend. Vermutlich würde ein Historiker (jedenfalls ein moderner bzw. heutiger - dazu weiter unten mehr…) tatsächlich ähnlich argumentieren; jedenfalls kann ich nichts Falsches an Deinen Darlegungen erkennen.

Außerdem bin ich ja genau so Laie wie Du, obwohl mich das Gebiet immer schon sehr interessiert hat und ich im Laufe meines Lebens sicher Hunderte von Büchern und Filmen zu historischen Themen gelesen/gesehen habe - aber, wie schon gesagt, alles nur als „Amateur“.

EIN Punkt springt mir aber dennoch sehr ins Auge. Und zwar, dass Du als Vertreter der jüngeren Generation ganz empirisch, sachlich, faktenbasiert und „Big Data“-mäßig argumentierst - wie es ja auch richtig ist.

Wenn Du, so wie ich, eine Generation älter wärst, wüsstest Du, dass in der frühen Geschichte der BRD bis etwa zum Zusammenbruch der kommunistischen bzw. sozialistischen Staaten wie Sowjetunion und DDR um 1990 herum die Historiker und Soziologen ganz anders argumentiert haben - nämlich von wenigen Ausnahmen abgesehen immer sehr ideologiegesteuert.

An der Universität, wo ich studiert habe, waren sicher um die 80-90% der Studenten und Professoren der Fächer Geschichtswissenschaft und noch mehr der Soziologie mehr oder weniger streng marxistisch orientiert.

Weil nämlich im Gegensatz zu heute fast die ganze Welt - und natürlich auch die Gelehrten - im Zeichen des Ost-West-Konflikts stand (die Berliner Mauer fiel etwa in der Mitte meines Studiums) und es in unserem Land einerseits die westlich, „kapitalistisch“, pro-amerikanisch orientierte und der NATO angehörige BRD und auf der anderen Seite des „eisernen Vorhangs“ eben den sogenannten „real existierenden Sozialismus“ à la DDR, die dem Militärbündnis Warschauer Pakt angehörte, gab.

Die DDR-Soziologen und -Historiker waren natürlich quasi schon per definitionem alle Marxisten (und mutierten dann nach der „Wiedervereinigung“ zu linken BRD-Wissenschaftlern) und, wie oben gesagt, die BRD-Soziologen/Historiker waren zu großen Teilen ebenfalls Marxisten und argumentierten „dialektisch“ auf der Grundlage des „Historischen Materialismus“ usw.
Praktisch keiner von denen hätte je CDU oder FDP gewählt.

Der grundlegende Unterschied zu Deiner aktuellen Wissenschaftsdefinition bestand darin, dass die Linke nicht so „induktiv“ vorging wie Du, sondern vielmehr zu großen Teilen „deduktiv“.

DU sammelst erst mal „empirische“ Fakten, wertest sie mathematisch aus und gelangst erst dann zu theoretischen Hypothesen, wie es ja auch richtig ist.

Die Marxisten hingegen gingen in deterministischer Weise VON EINEM GESETZMÄSSIGEN Verlauf der Geschichte aus, der - etwas vereinfacht - behauptete, die gesellschaftliche Entwicklung gehorche der Aufeinanderfolge "Urkommunismus - Feudalgesellschaft - frühe Industrialisierung mit Erstarken des nicht-adligen Bürgertums und dem „Frühkapitalismus“ - Hochzeit des Kapitalismus (vielleicht mit der zwischenzeitlichen Eskalation in Form des Faschismus als „terroristische Herrschaft des Finanzkapitals“).
Danach „erstickt der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen“, und es geht gesetzmäßig weiter mit Sozialismus wie in der DDR und ganz am Ende nach der „Weltrevolution“ Übergang in den Kommunismus.

An diese GESETZMÄSSIGE, weil von Marx vorhergesagte Entwicklung der Gesellschaft glaubten die Linken nicht nur in der DDR, sondern zu großen Teilen auch der BRD stärker als ein Christ an die Bibel.
Sie gingen also im Gegensatz zu Dir DEDUKTIV vor und suchten ziemlich selektiv nur Fakten, die dieser übergeordneten Theorie bzw. Ideologie entsprachen und sie zu bestätigen schienen.

Zum Entsetzen der braven deutschen Sozialisten und Kommunisten lehrte die Sowjetunion sie zwischen Oktoberrevolution und Ausbruch des 2. Weltkriegs sogar, man solle den Faschismus/Nationalsozialismus nicht ZU sehr bekämpfen (mit dem Kulminationspunkt des Hitler/Stalin-Pakts 1939-1941) und lieferten sogar ins „Mutterland des Kommunismus“ UdSSR geflohene deutsche Kommunisten postwendend wieder an die GESTAPO aus, da dieser Faschismus das gesetzmäßig NOTWENDIGE Endstadium des westlichen Kapitalismus darstelle und deshalb auf dem Weg zum Sozialismus und zur Revolution mit der „Diktatur des Proletariats“ nicht einfach übersprungen werden könne.
Und SO waren eben auch die BRD-Soziologen und -Historiker ausgerichtet.

Schon in meiner Schule waren - abgesehen vielleicht von 1-2 konservativen Latein- oder Deutsch-Lehrern praktisch alle Lehrer „Alt-68er“ (SDS, APO usw. und teilweise sogar Sympathisanten der linken Terrororganisation RAF).

Und als Student spielte ich in meinem Schachverein jahrelang zusammen mit einem berühmten Politologie-Professor, der sich über einen äußerst umfangreichen „Systemvergleich BRD versus DDR“ habilitiert hatte mit dem heute völlig absurd wirkenden „wissenschaftlichen“ Ergebnis, dass die DDR der BRD in praktisch ALLEN Bereichen (Wirtschaft, Justiz, Gesellschaft usw.) überlegen (!) sei, die BRD deswegen in Kürze an den inneren Widersprüchen des Kapitalismus zugrunde gehen und dann die DDR sich quasi die BRD einverleiben werde zu einem vereinigten sozialistischen Deutschland.

Bis mit dem Zusammenbruch der DDR, Sowjetunion usw. plötzlich das GANZ böse Erwachen kam, weil historisch genau das Gegenteil von dem eintrat, was die Marxisten postuliert hatten: DDR und UdSSR waren vollkommen pleite und gingen zugrunde, und der westliche „USA-Kapitalismus“ hat gesiegt.

Insofern finde ich Deinen Ansatz toll, weil Du als Vertreter der jüngeren Generation eben induktiv, empirisch und „evidence based“ argumentierst.

Du kannst mir als dem älteren aber ruhig glauben, dass das im letzten Jahrhundert noch völlig anders war und Fächer wie Soziologie, Politologie und Geschichte extrem „ideologisiert“ waren und deren Vertreter mit ihrem deduktiven bzw. ideologiegesteuerten Ansatz nur solche Fakten goutierten, die zu ihrer übergeordneten Theorie passten.

Die alles entscheidende GRUNDFRAGE lautet, ob die Geschichte und auch die Weltwirtschaft mit ihren intermittierenden Krisen nach GESETZMÄSSIGEN Abläufen (bei den Marxisten war es eben der fanatische Glaube an den FORTSCHRITT der Menschheit zu einer immer besseren, aufgeklärteren, gerechteren und rationaleren Welt) funktionieren oder aber rein von Zufällen regiert werden?

War z.B. der deutsche Nationalsozialismus zwangsläufig - mit Hitler als bloß austauschbarer Schachfigur einer geschichtlichen Entwicklung, die auch ohne einen Hitler sowieso gekommen wäre?
Oder aber hätte sich z.B. ohne die spezifische PERSON Hitler kein Drittes Reich und auch kein 2. Weltkrieg entwickelt?

Als Laie kann ich nicht sagen, was z.B. die Historiker diesbezüglich heute glauben. Oder ob Du z.B. von einer gesetzmäßigen Entwicklung der Weltwirtschaft mit vorhersehbaren Krisen, Börsencrashs usw. ausgehst?

Das ist alles, was mir zu Deinem Thema einfällt.

Da dies aber mit Fußball kaum etwas zu tun hat (abgesehen von „alternativgeschichtlichen“ Szenarien wie „Hätte sich der europäische Fußball anders entwickelt, wenn das „Wembley-Tor“ nicht gegolten hätte und Deutschland 1966 Weltmeister geworden wäre?“ oder eben "… der deutsche Fußball, wenn Schalke 04 2011 nicht nur „Meister der Herzen“ geworden wäre?), sollten wir die Diskussion wohl besser nicht weiter in diesem Thread diskutieren. Sondern, wenn überhaupt, dann entweder privat oder womöglich besser im Thread „Politik und Gesellschaft“.
Leider weiß ich nicht, wie eine solche Verschiebung in einen anderen Thread technisch funktioniert.

Dir jedenfalls noch einen schönen Tag, @alex.

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Lieber @Mondrianus, vielen Dank für Deinen interessanten Beitrag. Der Marxismus mit seinem Postulat einer nach objektiven Gesetzen fortschreitenden Geschichte, die von den Motiven und Absichten von Menschen unabhängig ist und sich nur in deren Handeln manifestiert, ist aber eine Geschichtsphilosophie, keine Geschichtswissenschaft, auch wenn die realsozialistischen Staaten wie früher die DDR und heute China immer vom Marxismus als Wissenschaft sprechen (was schon allein deshalb Quatsch ist, weil Wissenschaft nach vorne offen und wissenschaftliche Erkenntnis immer nur vorläufig ist, während beim Marxismus der genaue Verlauf und das Ende der Geschichte bereits feststehen und alles Wissen endgültig ist).

Begriffsgeschichtlich ist die unterschiedliche Verwendung des Begriffs der Wissenschaft in den westlichen und den sozialistischen Systemen aber trotzdem interessant.

Für eine Verschiebung sind wir noch nicht lang genug. Aber wenn Du nun nochmal länger antwortest, werde ich die Diskussion gegebenenfalls in einen neuen Thread auslagern.

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Danke für Deine interessanten Ausführungen, @alex.

Im Eingangssaal der Mensa gab es während meines Studiums einen Stand der „MG“ (= „Marxistische Gruppe“), die entsprechende Flugblätter verteilte.

Mir fiel auf, dass der Anführer der Gruppe seine ebenfalls anwesende Freundin ständig herum kommandierte und wie den letzten Dreck behandelte.
Mich störte das so sehr, dass ich ihn laut darauf ansprach, wie er dieses Macho-Verhalten denn mit dem emanzipatorischen Ansatz der Linken vereinbaren könne.

Darauf überlegt der Typ ein paar Sekunden und sagt dann doch tatsächlich:
„Die Unterdrückung von Frauen ist ein Nebenwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise und der Entfremdung. Erst nach der proletarischen Revolution wird sich die Frauenemanzipation von ganz allein einstellen“ (darüber wird sich seine Freundin natürlich riesig gefreut haben…).

Auf so eine absurde „Dialektik“ (diesen Begriff führten die Linken damals dauernd im Munde) muss man erst mal kommen; echt abstoßend!

Aber mal im Ernst: mich würden v.a. zwei Fragen interessieren:

  1. Ist ein „Fortschrittsglaube“ (von dem die Linke im Sinne einer Gesetzmäßigkeit immer ausging) gerechtfertigt in dem Sinne, dass seit der Französischen Revolution und der Aufklärung die Lebensbedingungen der Menschen durch Bildung, Industrialisierung, Arbeitsteilung, bessere medizinische Versorgung, Elektrifizierung (Du kennst vielleicht das berühmte Lenin-Zitat von 1920: *„Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des Landes“?), Computer, Internetzugang, Roboter, Digitalisierung usw. mit jedem Jahrhundert und Jahrzehnt immer besser werden?

Ich vermute, dass Du das bejahen würdest, denn Du hast ja hier auf MSR sehr detaillierte und überzeugende Daten für einen immer größer werdenden Fortschritt auf diversen Gebieten vorgelegt.

Ein Gegenargument für diesen „Fortschrittsglauben“ ist jedoch, dass gerade WEGEN der immer größer werdenden technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritte z.B. Morde und Kriege heutzutage sehr viel leichter und mit weitaus desaströseren Auswirkungen durchgeführt werden können als z.B. im Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert.

Damals gab es zwar auch Kriege, aber die waren meist örtlich begrenzter und bestanden „nur“ aus dem Kampf Mann gegen Mann mit Lanzen, Schwertern, Speeren, Pfeil und Bogen und vielleicht dem Zündnadelgewehr.

Während ausgerechnet im 20. Jahrhundert WEGEN des technischen Fortschritts zwei verheerende Weltkriege entstehen konnten und Massenvernichtungswaffen wie die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki eingesetzt wurden - oder halt Napalm-Bomben, Wasserstoffbomben, „Nine Eleven“ und seit kurzem Hypersonar-Raketen usw.
Heute kann man mit einer Drohne punktgenau einen Jeep in der Wüste pulverisieren oder durch Hacker-Angriffe die Stromversorgung und Atomkraftwerke lahmlegen.

All das verleiht dem „Fortschrittsglauben“ doch einen gewissen Dämpfer bzw. zeigt, dass im technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt große Chancen UND Gefahren liegen.

  1. Da Du Dich in der Ökonomie viel besser auskennst als ich, würde mich mal interessieren, ob denn die Weltwirtschaft gewissen vorhersagbaren Gesetzmäßigkeiten folgt - oder ob vieles mehr oder weniger zufällig passiert?

Ich meine, gewisse Trends wird man vermutlich ziemlich genau vorhersagen können, wie z.B. den wirtschaftlichen Zusammenbruch von Staaten wie Venezuela, Kuba oder dem Libanon. Oder dass die Volkswirtschaften und die Wirtschaftsmacht von China und Indien bzw. der sogenannten „Tigerstaaten“ immer mehr boomen werden.

Andererseits kam der „schwarze Freitag“ 1929 an der New Yorker Börse mit seinen gravierenden Auswirkungen auch auf die Ökonomie europäischer Staaten m.W. doch ziemlich überraschend.

Und wenn heute an der Börse fast alle Entwicklungen mit Hilfe von K.I. usw. vorhergesagt werden könnten, dann würde ja keiner mehr an der Börse spekulieren.
Ich selbst habe noch nie Aktien besessen, aber ein Experte, der auch hier auf MSR aktiv ist, hat mir mal erklärt, dass gerade WEGEN der K.I., die ja jeder gleichermaßen nutzen kann, „weiche“ Faktoren wie Bauchgefühl und Intuition eine große Rolle spielen, wenn man an der Börse Gewinne machen will.

Aber, wie gesagt, da bin ich totaler Laie.
Frage also an Dich: folgt die Weltwirtschaft vorhersehbaren Zyklen und Gesetzmäßigkeiten - oder erlebt man da immer wieder faustdicke Überraschungen, wenn ein Staat oder ein Konzern plötzlich pleite gehen, obwohl kaum jemand damit gerechnet hatte?

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P.S.:
Oder, auf den Punkt gebracht: konnte man vor - sagen wir mal - 30 Jahren ziemlich genau vorhersehen, dass die Weltwirtschaft heute so aussehen würde, wie sie aussieht?
Oder hat es da große Überraschungen gegeben, die man so nicht erwartet hätte?

Es wäre jetzt glaube ich Zeit für eine Verschiebung in einen anderen Thread. Hat ja nix mehr mit Kompany zu tun. Inhaltlich finde ich eure Diskussion übrigens hochinteressant.

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Ein kleiner Rückblick aus weiterer Vergangenheit.
Wer hatte damals die Lösung (diese Lösung) der „Pferdeplage“ vorausgesehen?

"Die London Times warnte daher 1894 angesichts der Pferdeplage: 1950 würde der Pferdemist drei Meter hoch liegen, wenn das so weiterginge. Stadtplaner und Politiker suchten nach Lösungen, man baute U-Bahnen, verbesserte den Nahverkehr. Half alles nichts. Ein radikaler Schnitt musste her, eine Energiewende. Grünfutter war nicht länger zu verantworten, die Belastung für Menschen und Umwelt war zu groß. Was tun?

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Geschichte ist keine Mathematik. :wink:

Geschichte ist eine sogenannte empirische Wissenschaft. Will sagen, sie analysiert und interpretiert. Prognosen zu treffen ist ihr fast unmöglich.

Es gibt zwar die uralte Sicht auf Zivilisationen, die sich zyklisch entwickeln: Aufstieg, Expansion, Sättigung/Degeneration und Zerfall. Diese hat sich vielfach wiederholt. Wer auch immer den Urheber dieser Theorie kennt, bekommt 2 Punkte gegen Gladbach. :wink:

Ansonsten wäre es mir komplett neu (nach über 10 Jahren historischer Recherche), dass Geschichte sich prognostizieren lässt.

Hätten wir nach Jelzin einen anderen Nachfolger als Putin bekommen, wer weiss? Schon meine Eltern haben immer gesagt: „Wär dem Adolf doch eine Dachziegel auf den Kopf gefallen.“

Prognosen sind Mumpitz. Es hängt immer an den Akteuren.

Ein letzter aktueller Impuls, Autor Michael Hopf:

„Harte Zeiten schaffen starke Männer. Starke Männer schaffen gute Zeiten. Gute Zeiten schaffen schwache Männer. Und schwache Männer schaffen harte Zeiten.“

Männer sollte man heute mbMn durch „Menschen“ ersetzen, weil diskriminierend. Ansonsten passt der Spruch hervorragend: Die längsten Friedenszeiten hat Europa nach dem 30jährigen Krieg und den Napoleonischen Kriegen erlebt, also jeweils nach grossen Verwüstungen. Parallelen zur Gegenwart kann man gut erkennen.

Das macht Geschichte zur Wissenschaft - ohne jede Garantie.

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Eigentlich gilt mein Kommentar eher @Mondrianus , aber dein letzter Absatz hat mich mehr getriggert, so dass ich dich zitiere.

Ich habe gestern mehrfach bereits angesetzt, um auf die Aussage, dass Geschichtswissenschaft keine Wissenschaft wäre, zu reagieren, habe es aber lieber gelassen. Da mich heute die Aussage immer noch stört und in meinem Kopf herumschwirrt, muss ich, hoffentlich in gemäßigter Weise doch antworten, wenn ich auch nicht zu sehr in die Tiefe gehe, weil ich keine neue Diskussion beginnen will.

Alex, du hast die richtigen Worte gefunden, um auf Mondarius Einwand zu reagieren. Bis eben auf diesen letzten Absatz.
Es bleibt eben nicht ihm überlassen, ob er das akzeptiert oder nicht. Dann kann man ja gleich behaupten, dass die Erde eine Scheibe ist.

Es ist völlig in Ordnung, wenn man sich mit etwas nicht auskennt. Aber dann haue ich solche Aussagen eben nicht raus. Das hat mit Meinungsfreiheit nichts zu tun. Ob eine Wissenschaft eine Wissenschaft ist, hat mit Meinung nichts zu tun. Das muss und darf man ignorant nennen. Ich will dich @Mondarianus hiermit nicht persönlich angreifen, wenn ich auch dich damit meine und bewusst bei „ignorant“ bleibe. Wenn du dich schon selbst als Laie bezeichnest, dann musst du zwei Schritte weiterdenken und anerkennen, dass du solche Aussagen einfach nicht tätigen darfst. Die Welt geht nicht unter, weil du es gemacht hast, aber du darfst gerne in dich gehen und in Zukunft lieber eine Frage formulieren oder dich an Experten wenden (meine jetzt nicht mich damit).

Spannenderweise war eine Spiegelüberschrift in den 80er Jahren ungefähr wie „Brauchen wir noch die Geschichte“, weil eine Diskussion daraus entstand, ob andere Disziplinen wie Politikwissenschaft nicht eher geeignet wären, die aktuellen Entwicklungen zu beschreiben und einzuordnen. Die Grundidee, die dahinter liegt, wurde in der obigen Diskussion auch angesprochen: die Vergangenheit ist schon längst besprochen, darum müssen wir uns also nicht kümmern.
Die damalige Diskussion hat die Geschichtswissenschaft als Wissenschaft gestärkt und wir müssen nicht von vorne anfangen.

Ich möchte abschließend eine Episode anbringen, die zeigt, dass solche Diskussionen auch andere Disziplinen betrifft.
Ich habe vor ca. 2 Jahren einen sehr interessanten Vortrag einer Professorin für Grundschulpädagogik gehört, in der sie erzählt, wie sie dafür gekämpft hat, dass die Grundschulpädagogik an die Universität kommt.
Im ersten Semester wurde sie dann in der Mensa von einem Mathematikprofessor beschimpft, dass sie nichts an der Uni zu suchen hat.
Auch scheinbar kluge Menschen können extrem ignorant sein.

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Ich wollte selbstverständlich NICHT sagen, dass Geschichtswissenschaft keine Wissenschaft wäre, denn das wäre ja völliger Blödsinn.

Habe nur angemerkt, dass anders als in den Naturwissenschaften, der Medizin und Psychologie die Historiker keine Voraussagen treffen, die dann verifiziert oder falsifiziert werden können. Und dass ich bei einigen Historikern das Gefühl habe, dass sie z.B. die Ereignisse der Weimarer Republik nicht aus dem Blickwinkel der damaligen „Jetzt-Zeit“ beschreiben, sondern mit dem Wissen, wie 1945 alles geendet hat.
Da wird es dann oft so dargestellt, als ob es zwangsläufig in einen 2. Weltkrieg münden müsse, obwohl es auf dem Wissensstand von - sagen wir - 1930 oder 1933 noch gar nicht klar war, dass es so enden müsse, sondern dass auch alternative Szenarien denkbar gewesen wären.

Das wäre in etwa so, wie wenn man eine Szene aus der 20. Minute eines Fußballspiels mit dem retrospektiven Wissen, dass das eine Schlüsselszene war und das Spiel letztlich 1:2 ausgehen würde, kommentieren würde.

Nehmen wir nur mal Neuers Platzverweis gegen Leverkusen. Aus der RETROSPEKTIVE war er spielentscheidend. Hätte der FCB aber trotzdem das Spiel gewonnen, wäre der Platzverweis vielleicht schmunzelnd als „Kavaliersdelikt“ gewertet worden, das keinen Einfluss auf das Ergebnis des Spiels hatte.

Ich habe ja auch erwähnt, dass ich in einer Zeit aufgewachsen bin, wo viele Lehrer und Geisteswissenschaftler an der Uni Marxisten waren und dass bei denen die vorgefasste Theorie des Historischen und Dialektischen Materialismus Vorrang hatte vor den tatsächlichen Fakten, damit diese in die Theorie passen. Weswegen ich bei MARXISTISCHEN Historikern, Soziologen usw. tatsächlich gewisse Zweifel an deren Wissenschaftlichkeit hatte.

Um noch anhand eines Beispiels zu zeigen, was mich irritiert hat: 1988 hat m.W. kein Soziologe, Politologe oder westlicher Geheimdienst vorhergesagt, dass die DDR und der Ostblock kurz danach zusammenbrechen würde.
Im NACHHINEIN jedoch klingt es bei vielen Autoren so, dass es aus den und den Gründen 1988 natürlich so kommen MUSSTE, weil man retrospektiv eben immer schlauer ist als in der damaligen „Jetzt-Zeit“.

Und das mit den Prognosen für die Zukunft habe ich auf die Wirtschaftswissenschaften bezogen.

Ich liebe Bücher von Historikern und will ihnen selbstverständlich nicht die Wissenschaftlichkeit absprechen.

Aber die Kommentare von @umut empfinde ich als extrem polemisch („ignorant“, „kann man ja gleich behaupten, dass die Erde eine Scheibe ist“, „auch scheinbar (!) kluge Menschen können extrem ignorant sein“ usw.) und grenzwertig beleidigend.

Gefahren, ja. Aber in diesem Sinne ist auch ein Schraubenzieher gefährlich, weil man jemanden damit erstechen kann, oder eine Badewanne, weil man jemanden darin ertränken kann.

Das Potential für verheerende Gewalt mit Millionen von Toten in kürzester Zeit ist natürlich heute, im Zeitalter der Atombombe, ein ganz anderes als im 19. Jahrhundert und allen Zeiten davor, interessant ist aber doch der Blick auf das, was wirklich passiert ist: Hat der Mensch parallel zur gigantischen Steigerung seines Vernichtungspotentials auch tatsächlich mehr Vernichtung angerichtet?

Untersuchungen wie die des Harvard-Psychologen Steven Pinker in seinem Buch The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined legen nahe, dass der Anteil der Menschen, die eines gewaltsamen Todes sterben, z. B. als Opfer eines Tötungsdeliktes oder in einem Krieg, im Laufe der Geschichte aufgrund eines Prozesses zunehmender menschlicher Zivilisation (man könnte auch sagen: moralischen Fortschritts) dramatisch zurückgegangen ist und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg den niedrigsten Stand in der Geschichte der Menschheit erreicht hat.

Nicht ganz so optimistisch, aber mit einer ähnlichen Grundaussage versehen ist diese interessante Grafik des ausgezeichneten Projekts Our World In Data, die versucht, die Raten gewaltsamer Todesfälle seit dem 14:

Deiner Aussage, dass man früher nicht so viele Menschen in so kurzer Zeit töten konnte und heute durch Techniken wie Drohnen praktisch jeder jederzeit Opfer eines tödlichen Angriffs werden kann, stimme ich zu, solange wir über Vernichtung bzw. Gefahr nur als Potential sprechen. Denn trotz dieser Zunahme an Vernichtungspotential scheint mir das Leben der Menschen heute de facto viel sicherer und gewaltfreier zu sein als zu fast jedem Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte zuvor.

Die Modellierung gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge (Beschäftigung, Preisniveau, Zinsen, BIP usw.) ist das Gebiet der Makroökonomik. In der Makroökonomik gibt es Theorien, die die regelmäßige Entwicklung von Volkswirtschaften in Zyklen beschreiben, z.B. die Theorie der Kondratjew-Zyklen oder der „Real Business Cycles“ (RBC), die aber empirisch teilweise nur schwach belegt sind und in Fachkreisen umstritten sind. Zumindest die RBC-Theorie wird von vielen Ökonomen als seriöse Theorie angesehen, zwei ihrer Entwickler haben dafür sogar den Wirtschaftsnobelpreis erhalten, aber es gibt auch Ökonomen, die diese Theorie aufgrund ihrer völlig unrealistischen Modellannahmen und der schwachen empirischen Evidenz als zwar geniale intellektuelle Leistung, aber letztlich als Schlangenöl bezeichnen.

Probleme mit der Realitätsnähe der Annahmen, der Qualität der Modelle und der Prognosegüte sind in der Makroökonomik traditionell ein viel größeres Problem als in der Mikroökonomik, wo es um das Verhalten einzelner Unternehmen und Haushalte geht, was sich leichter und robuster modellieren lässt.

Um Deine Frage zu beantworten: Die Vorhersage des Verhaltens von Menschen als Wirtschaftssubjekte unterliegt genau den gleichen Schwierigkeiten wie die Vorhersage des Verhaltens von Menschen in anderen Kontexten. Im Aggregat wird man immer gewisse Regelmäßigkeiten feststellen können und man kann unter der Annahme stabiler Umweltbedingungen sicherlich auch Kausalaussagen machen, aber wie Du schon richtig vermutet hast, ist menschliches Verhalten so vielfältig und sind menschliche Gesellschaften inhärent so chaotisch, dass es immer wieder zu „schwarzen Schwänen“ kommen kann, und deshalb würde ich sagen: Es gibt Phasen relativer Stabilität und Ruhe, in denen die dann existierenden makroökonomischen Modelle und Theorien wirtschaftliche Zusammenhänge gut beschreiben und wirtschaftliche Entwicklungen gut antizipieren können, aber eine „Weltformel“ für das globale Wirtschaftssystem, die es schafft, das alles wirtschaftliche Geschehen vollständig zu beschreiben und richtig vorherzusagen, gibt es nicht und wird es m. E. auch nicht geben können.

Aber das sind dann sicher auch keine seriösen Historiker, oder? Ich weiß ja nicht, wo Du das gelesen hast oder ob Du eine bestimmte Person im Kopf hast, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass solch eine Aussage von einem seriösen Wissenschaftler kam.

Zu Recht, wenn sie den Lauf der Geschichte mit marxistischen Gesetzen erklären wollten. Aber hast Du das an Universitäten wirklich erlebt? Im Hörsaal? Von Historikern?

Ich glaube nicht, dass @umut Dich beleidigen oder kränken wollte. Ich nehme Umut immer als freundlichen, netten Gesprächspartner wahr. Er hat sich offensichtlich durch eine Deiner Aussagen getriggert gefühlt, die er haarsträubend fand (das hat er ja auch gesagt), aber ich glaube nicht, dass er damit ein Urteil über Dich persönlich verbunden hat.

Gerade diesen Vergleich halte ich eben für unangemessen.

Ich habe mitten im Kalten Krieg an einem Ort studiert, der kurz vor der DDR-Grenze lag und wo es in einem Radius von 100 km die m.W. größte Atomwaffenkonzentration Europas, wenn nicht sogar der ganzen Welt gab.

Von der westlichen Seite der DDR-Grenze, also in der Nähe meines Studienorts, waren Hunderte von Atomraketen Richtung Osten stationiert, und 100 km weiter östlich auf DDR-Gebiet hatte der Warschauer Pakt seine Atomraketen Richtung Westen stationiert.

Natürlich hat dieses „atomare Gleichgewicht des Schreckens“ bzw. die gegenseitige Abschreckung zwischen NATO und Warschauer Pakt in gewisser Weise glücklicherweise dafür gesorgt, dass es eben nicht zum 3. Weltkrieg kam. Trotzdem war das natürlich eine sehr heikle Geschichte, denn, wie ich schon geschrieben habe, wenn z.B. im Zuge der Leipziger Montags-Demonstrationen 1989 udgl. auch nur EIN sowjetischer Panzer-Kommandant die Nerven verloren und in die Menge hinein geballert hätte, hätte es sehr leicht zur Eskalation und zum ultimativen militärischen Showdown zwischen Ost und West kommen können.

Eigentlich ist es sogar ein großes Wunder, dass die Sowjetunion sang- und klanglos untergegangen ist, ohne dass ein paar Hardliner die Militärmacht des Warschauer Pakts genutzt hätten, um vor dem eigenen Untergang noch mal „wild um sich geschossen“ zu haben.

Es hätte auch kaum jemand für möglich gehalten, dass die DDR mit all ihrem militärischen und paramilitärischen Potential (wie z.B. die schwer bewaffneten Arbeiterkampfbünde in den Betrieben) sich kampflos in ihr Schicksal ergibt, ohne dass ein einziger Schuss fällt - das alles hätte auch sehr leicht ganz anders und viel, viel schlimmer ausgehen können.

Immerhin - so groß in Zeiten des Kalten Krieges das gegenseitige militärische Vernichtungspotential NATO versus Warschauer Pakt auch war, war die Welt doch damals „berechenbarer“ als heute, weil es im Grunde nur die beiden Weltmächte Sowjetunion und USA mit ihren jeweiligen Vasallenstaaten gab.

Wenn also Washington mit Moskau bestimmte Abrüstungsmaßnahmen vereinbart hatte, konnte man auch sicher sein, dass die jeweilige andere Supermacht sich an diese Verträge hält, weil es ja auf der Welt im Grunde nur zwei antagonistische Supermächte gab.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks ist die Gefahr eines Atomkriegs deshalb viel größer geworden, weil plötzlich ganz viele ehemalige GUS-Staaten unabhängig wurden und fast jeder von denen spaltbares Material an sich gebracht hat - die USA hatten also nicht mehr nur einen Verhandlungspartner (UdSSR), sondern auf einmal ganz viele.

Zudem sind ja auch Staaten wie Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Südafrika, Israel und Nordkorea (!) Atommächte - vielleicht auch noch der Iran, der dies jedenfalls unentwegt versucht. Plus natürlich unlängst die Hypersonar-Raketen Russlands, gegen die es angeblich keinerlei Verteidigung gibt.
Oder wenn man sich vorstellt, dass auf dem internationalen Schwarzmarkt islamistische Terroristen an spaltbares Material herankommen und z.B. eine „schmutzige Bombe“ einsetzen…

Es muss nur EINE dieser ganzen Atommächte ausrasten und irgendein verantwortungsloser Idiot „den roten Knopf“ drücken, dann werden ganze Länder pulverisiert so wie damals in Hiroshima und Nagasaki.
Heute gibt es so viele atomare Sprengköpfe auf der Welt, dass der ganze Globus hundertmal in die Luft gesprengt werden könnte.

Das ist so ähnlich wie mit den Atomkraftwerken. Zumindest die deutschen waren so sicher, dass zum Glück nie etwas passiert ist. WENN aber etwas passiert wäre wie in Tschernobyl, dann wären große Teile der BRD auf Jahre hinaus unbewohnbar gewesen.

Der Begriff „Risiko“ setzt sich ja sich zusammen aus der Auftretenswahrscheinlichkeit eines Ereignisses multipliziert mit der Schwere der Folgen, WENN es eintritt. Die erstere ist bei AKW-Unfällen und Atommächten ziemlich gering, die Schwere der Folgen jedoch wäre desaströs.

Bevor z.B. das aktuell ja sehr bedrängte und in seiner Existenz gefährdete Israel untergeht, wird es eine Atombombe zünden. Und die Mega-Atommacht USA wird Israel dann unterstützen, da die USA sich vertraglich verpflichtet haben, Israel auf keinen Fall untergehen zu lassen.

Ähnliches gilt für Nordkorea. Wenn sich dieses Land in die Ecke gedrängt fühlt und kurz vor dem Zusammenbruch steht, würde ich nicht allzu viel auf das Verantwortungsgefühl eines Kim Jong-un setzen, es nicht zur atomaren Eskalation kommen zu lassen.

Solche Massenvernichtungswaffen, mit denen die ganze Menschheit ausgelöscht werden könnte, gab es in früheren Jahrhunderten - bzw. vor 1945 - eben noch nicht.

Und das ist dann ja wohl doch etwas ganz anderes als Dein Schraubenzieher oder Deine Badewanne, bei denen es exakt ein Todesopfer gibt.

Vielleicht hast Du recht, dass die Welt heute insgesamt sicherer geworden ist als früher. Der Knackpunkt ist „nur“, wenn EINER, der Massenvernichtungswaffen besitzt, von denen Gebrauch macht, kann ALLES sehr schnell vorbei sein - und das kann man doch nicht mit Schraubenziehern und Badewannen vergleichen…

Witzigerweise habe ich über die Weimarer Republik, also die Jahre 1919 bis 1933, seinerzeit meine Facharbeit im LK Geschichte verfasst.

Es war vielleicht nicht zu 100% sicher, dass es zu einem 2. Weltkrieg kommen musste, aber sehr viele Stellschrauben wurden in dieser Phase schon in diese Richtung gedreht:

Hohe Arbeitslosigkeit, drückend hohe Reparationszahlungen an die Alliierten des 1. Weltkrieges, revanchistische Tendenzen in Österreich, Deutschland und Italien, dann noch der Schwarze Freitag und die Weltwirtschaftskrise mit dem Absturz der Reichsmark samt Hyperinflation und der Verarmung der Arbeitermassen.

Aber natürlich war diese Entwicklung nicht zwingend. Wie oben schon geschrieben, „wär dem Adolf doch eine Dachziegel auf den Kopf gefallen…“

Auch nach Kriegsbeginn hätte es unter Hitler nicht zum Weltkrieg kommen müssen, hätte nicht Hitler Russland und dann Japan Pearl Harbor angegriffen.

Doch, genau das hast du gesagt.

Kein persönlicher Angriff.

Hier beziehe ich mich auf den Mathematikprofessor.

Wer sagt denn, dass dies die Aufgabe von Historikern ist? Ich wundere mich auch, wie man das überhaupt denken kann.
Aber gleichzeitig zeigt es auch, dass du in deiner Vorstellung über wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung sehr eingeengt bist.

Wenn du dich für historische Zusammenhänge interessierst, empfehle ich dir sehr, dich mit der Wissenschaftsgeschichte auseinanderzusetzen. Du wirst erkennen, dass Medizin, Naturwissenschaften & Co. sehr viel länger rein hermeneutisch Erkenntnisse gewonnen haben als nach heute gültigen Methoden.

Warum ich mich übrigens getriggert fühle? Ich bin Althistoriker und wenn du solche Behauptungen aufstellst, stellen sich bei mir die Nackenhaare auf. Ich fühle mich zwar nicht persönlich angegriffen, aber ich kann auch nicht derart sokratisch wie Alex antworten. Eher in einem persönlichen Gespräch, was wahrscheinlich unrealistisch ist. Wenn du aber Lust hast, sehr gerne.

Eben, genau das meine ich ja.

Nicht nur die NSDAP, sondern auch die KPD hatte gegen Ende der Weimarer Republik große Stimmenzuwächse zu verzeichnen. Das „Glück“ für Hitler war, dass die Linke heillos untereinander zerstritten war.

Die Kommunisten haben die Sozialdemokraten fast mehr gehasst als Hitler und haben sie als „Sozialfaschisten“ bekämpft. Das ging sogar soweit, dass bei der Reichspräsidentenwahl 1932, als die Kandidaten Hindenburg, Hitler und Thälmann (KPD) zur Wahl standen, die SPD und die Linksliberalen ihren Anhängern empfohlen haben, lieber den erzreaktionären alten Knochen Hindenburg - der die Sozis gehasst hat - zu wählen, auf keinen Fall aber Thälmann (und damit haben die Sozialdemokraten es ermöglicht, dass Reichspräsident Hindenburg kurz danach Hitler zum Reichkanzler ernannte).
Schließlich hatte schon der große SPD-Politiker Ebert in Abgrenzung von den Kommunisten gesagt: „Ich hasse die Revolution wie die Sünde“.

Will sagen: wenn sich damals die zig Millionen Sozialdemokraten mit der KPD zur sogenannten „Arbeitereinheitsfront“ vereinigt hätten (wie es später dann bei der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED in der DDR geschah…) und auch noch die linken Gewerkschaften mitgezogen hätten, dann hätte es sehr gut passieren können, dass Weltwirtschaftskrise, Schwarzer Freitag und all die von Dir genannten Faktoren nicht den Reichskanzler Hitler hervorgebracht hätten, sondern dass das Deutsche Reich auf Jahre hinaus von Sozialdemokraten und Kommunisten regiert worden wäre, die die Großkonzerne enteignet hätten usw.

Dies hätte vielleicht den ganzen 2. Weltkrieg verhindert; gleichzeitig hätte aber natürlich die Gefahr bestanden, dass ein sozialistisches Deutsches Reich eng mit der Sowjetunion zusammengearbeitet und das Vordingen der UdSSR nach Westeuropa begünstigt hätte.

Ähnliches später in der Weltpolitik: wenn die beiden kommunistischen Megastaaten UdSSR und „Rot-China“ nicht aufgrund eines Schismas so heillos miteinander zerstritten gewesen wären, sondern ihre Militär- und Wirtschaftsmacht zusammengelegt hätten, hätten sich die USA kaum gegen sie behaupten können, und es wäre vielleicht nie zum letztlichen Zusammenbruch der Sowjetunion gekommen.

Diese Beispiele zeigen, dass die letztendliche Entwicklung von Geschichte mitunter von Kleinigkeiten bzw. Zufällen abhing und durchaus Alternativszenarien möglich gewesen wären, die Hitler ebenso verhindert hätten wie den Aufstieg der USA zur Weltmacht Nummer 1 in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts.

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Noch krasser fand ich in der Weimarer Republik die Wahlen zum Reichspräsidenten von 1925. Das Wahlrecht erforderte damals eine absolute Mehrheit im ersten Durchgang und eine einfache Mehrheit im zweiten Durchgang.
Die demokratischen Parteien SPD, DDP und Zentrum einigten sich für den 2. Wahlgang (im 1. Wahlgang bekam erwartungsgemäß niemand die absolute Mehrheit) auf den Zentrumspolitiker Marx, der zwar schlechter abgeschnitten hatte als der SPD-Mann Braun, aber dem man allgemein bessere Chancen im bürgerlichen Lager zuschrieb.
Die rechten Parteien stellten vor dem 2. Durchgang Hindenburg, der in Durchgang 1 noch gar nicht kandidiert hatte, als Kandidaten auf, in der Hoffnung, dass er mehr Stimmen erreichen würde als der Kandidat Jarres, der im 1. Durchgang immerhin die meisten Stimmen aller Bewerber geholt hatte.
Und dann waren da noch die Kommunisten, die ihren Kandidaten Thälmann, der im 1. Wahlgang mit 7 Prozent schon klar im Hintertreffen war, trotzdem noch einmal ins Rennen schickten, wohl wissend, dass dies eher Hindenburg in die Karten spielen würde.
So kam es, dass dieser mit 3 Prozent Vorsprung vor Marx siegte. Thälmann hatte 6,4 Prozent eingefahren. Man kann sich wohl ausrechnen, was wahrscheinlich passiert wäre, wenn er auf eine Kandidatur verzichtet hätte.
Das Ergebnis wäre ziemlich sicher gewesen, dass während der schlimmsten Phase der Weltwirtschaftskrise ein demokratisch gesinnter Reichspräsident an den Schalthebeln der Macht gesessen hätte und die im Vergleich zum heutigen Bundespräsidenten extrem großen Machtbefugnisse im Sinne der Demokratie genutzt hätte. So saß plötzlich an der Spitze eines demokratischen Staates der Mann, der 1918/19 sein eigenes Versagen als Mitglied der OHL während des 1. Weltkrieges der Demokratie in die Schuhe schieben wollte, was ihm in Teilen der Gesellschaft mit der Dolchstoßlegende ja auch vortrefflich gelang.
Reichspräsident Marx wäre zumindest eine Hoffnung gewesen, die Weimarer Republik zu retten.

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Sebastian Haffner hat das Versagen der SPD fünfzig Jahre nach der Novemberrevolution in seinem Buch „Der Verrat“ anschaulich skizziert.

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Hochinteressant, Deine Darlegungen, @willythegreat.

Was Du da schreibst, klingt überzeugend und hatte ich gar nicht auf dem Schirm.

Lustig nur, dass dann ausgerechnet ein Reichspräsident MARX den Weg Deutschlands in die Radikalisierung verhindert hätte.

Mir war gar nicht bewusst, dass Marx damals noch gelebt hat… :slight_smile:

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Das kann man dann schon fast als Ironie der Geschichte bezeichnen.
Hätten die deutschen Kommunisten 1925 nicht einem Mann namens Marx ihre Unterstützung verwehrt (statt an einem eigenen Kandidaten ohne jegliche Siegchancen festzuhalten), dann wäre der Mann, der Hitler 1933 zum Reichskanzler berief und somit die Verfolgung der deutschen Kommunisten ab Februar 1933 erst ermöglichte, nicht Reichspräsident geworden.
Das taugt auf jeden Fall wieder für ein interessantes Alternativszenario „Was wäre gewesen, wenn…“
Eines meiner Lieblingsszenarien geht aber noch ein paar Jahrzehnte zurück. Anlässlich des 150jährigen Scheiterns der Deutschen Revolution von 1848/49 wurde 1999 hin und wieder die Frage gestellt: „was wäre gewesen, wenn die Revolution von 1848 erfolgreich gewesen wäre?“
Ein geeintes Deutschland ganz ohne preußische Hegemonie und evtl. unter Einbeziehung von österreichischen Gebieten mit einem starken Parlament hätte möglicherweise einen deutlich anderen Verlauf der Geschichte bewirkt.

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