Als jemand, der auf Basis einer kühl-rationalen Risiko-Nutzen-Kalkulation in der Vergangenheit immer gesagt hat, dass es sich eine Mannschaft wie der FC Bayern, die den Anspruch hat, jedes Jahr jeden Wettbewerb, in dem sie antritt, auch gewinnen zu wollen, nicht leisten kann, naturgemäß unerfahrene Jugendspieler mit naturgemäß hoher Leistungsvarianz und noch schlecht abzuschätzender Leistungserwartung systematisch (und nicht nur mal für ein paar Minuten hier und dort) in die erste Mannschaft einzubauen, muss ich heute sagen, dass ich meine Meinung geändert habe.
Warum? Ich werde zunehmend Anhänger der Theorie, dass für einen Jugendspieler fester Bestandteil der ersten Mannschaft zu sein, und zwar sowohl sportlich, im Sinne von: Er bekommt regelmäßig Einsatzzeiten, auch in „echten“ Spielen, als auch mental im Sinne von: Ich gehöre fest zum Kreis der ersten Mannschaft, notwendig ist (nicht hinreichend, aber notwendig), um den Durchbruch zu einem vollumfänglichen Profifußballer zu schaffen – unabhängig davon, wo dann das obere Limit dieser Entwicklung ist, ob es bis zu Messi reicht oder schon bei Dominik Kohr aufhört.
Ich bin zudem inzwischen der Meinung, dass Einsatzzeiten in der ersten Mannschaft nicht notwendig sind, um das Potential eines Jugendspielers sozusagen zu „entbergen“ oder freizulegen, sondern dass durch diese Einsatzzeiten das Potential – zusammen mit seiner Realisierung – zu einem signifikanten Anteil überhaupt erst entsteht. Ich glaube zunehmend an die Endogenität von Potential im Prozess seiner Realisierung.
Meinen Meinungsumschwung haben drei Beobachtungen bzw. Ereignisse befördert:
- Der FC Barcelona, der in den letzten Jahren im Blickschatten seiner absurden Kauf- und Verkaufspolitik auf dem Transfermarkt einer spektakulären Zahl von zum größten Teil aus der eigenen Jugend stammenden Nachwuchsspielern mit Vertrauen und regelmäßigen Einsätzen in der ersten Mannschaft zum Durchbruch bis hoch zum Niveau, Leistungsträger in der ersten Mannschaft des FC Barcelona zu sein, verholfen hat. Wenn sich im Einzugsgebiet von La Masia keine im europäischen Fußball einmalige Dichte von natürlichen Talenten konzentriert, sondern meine Potential-Endogenitätsthese stimmt, dann beweist der Erfolg von Barcelona, dass sich konsequente Jugendspielereinbindung in Form einer auch entsprechend hohen Durchbruchsquote von Spielern auszahlen kann.
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Die Entwicklungen von Aleksandar Pavlović und Josip Stanišić: Pavlović, der als Notlösung wie aus dem Nichts in der ersten Mannschaft auftauchte und dort inzwischen bereits vermisst wird, wenn er nicht spielen kann; und Stanišić, der es über beständige Einsatzzeiten inzwischen zu einem vollkommenen Bundesligaspieler auf gutem Niveau gebracht hat. Pavlović ist der Beweis dafür, dass es sein kann, dass sich der Wert eines Jugendspielers erst im Einsatz in der ersten Mannschaft zeigt und man nicht immer vorher schon sagen kann, wie gut ein bestimmter Jugendspieler wahrscheinlich werden wird oder würde, wenn man ihn in der ersten Mannschaft einsetzte; und Stanišić ist der Beweis dafür, dass sich die Qualität eines Jugendspielers mit regelmäßiger Einsatzzeit und fester Teilhabe an einer ersten Mannschaft deutlich weiterentwickeln kann.
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Das Spielsystem von Vincent Kompany. Kompany spielt ein System, in dem sich alle Spieler übers Läuferische und Offensivspieler über tolle Tricks auszeichnen können. Den ganzen Tag mit Freude und Hingabe den Platz rauf und runter zu rennen und am nächsten Tag trotzdem wieder fit zu sein und Lust zu haben, das Ganze noch mal zu machen, sowie technisch hochwertige Tricks am Ball auszuführen, ist genau das, wo 17-, 18-, 19-, 20-Jährige im Vergleich mit älteren Spielern am relativ besten dastehen. Unter allen Spielsystem, die man sich so vorstellen kann, ist das von Kompany damit eines von denen, die dem spezifischen Stärkeprofil von jüngeren Spielern am meisten entgegenkommen. Der potentielle drop-off in der Leistung der Mannschaft bei einem Verzicht auf einen älteren Spieler zugunsten eines Jugendspielers in einem Spiel ist hier relativ kleiner als z. B. in Tuchels System im letzten Jahr und meiner Meinung nach absolut sogar so klein, dass ich die erwartbare Schwächung der ersten Mannschaft relativ zu einer Situation ohne Jugendspieler sowie das Risiko, ihn auch in bedeutsamen Spielen einzusetzen, für vertretbare halte.
Ich bin nicht zu einem Schwärmer geworden. Die Bayern sollten nicht anfangen, in 80 bis 100 % ihrer Spiele mehr als einen Jugendspieler einzusetzen. Aber ich bin inzwischen auch der Überzeugung, dass es falsch ist, wegen eines vermeintlich schlechten Risiko-Nutzen-Profils niemals einen einzusetzen, wenn man nicht muss.
Unter dem Strich glaube ich, dass es für die Bayern absolut vertretbar wäre, zwei feste Jugendspielerplätze im Kader der ersten Mannschaft vorzusehen, die idealerweise mit zwei festen Kandidaten besetzt sind, von denen einer regelmäßig eingesetzt wird (regelmäßig = relevante Minuten und in allen Schwierigkeitsprofilen, inklusive Champions League), bis man mit relativ hoher Sicherheit sagen kann, dass er ein Erfolg oder Misserfolg werden wird, und dann das Ganze mit einem neuen Jugendspieler zu wiederholen (das Prozedere muss vielleicht nicht genau dieser strengen Form folgen, aber so ungefähr in diese Richtung könnte es gehen).
Nach allem, was ich über ihn gelesen habe, insbesondere von Justin, bin ich inzwischen so angefixt von Aznou, dass ich sage: Gebt dem Mann eine Chance! Ein sehr großes Talent soll er ja haben, das ist schon mal eine gute Grundlage. Aber wir werden nie definitiv wissen, ob und wie er in einer Bundesligamannschaft funktioniert, was er in so einem Umfeld leisten kann und wo sein Limit ist, wenn er nicht regelmäßig eingesetzt wird, und vielleicht sind regelmäßige Einsatzzeiten und ein Status als fester Bestandteil der ersten Mannschaft auch die notwendige Bedingung dafür, dass er überhaupt jemals einen Durchbruch als Bundesligaprofi schaffen und möglicherweise irgendwann ein hohes Limit erreichen kann. Dann muss er eingesetzt werden, damit er gut werden kann.
Also ab heute bitte Aznou einplanen für die erste Elf! Und bitte regelmäßig spielen lassen. Die Chancen überwiegen die Risiken bei weitem.
Und der Bauch sagt auch ja. 