Vielen Dank für diese interessanten Überlegungen, @Alex.
Deine Argumentation klingt logisch und zwingend.
Man sollte jedoch bedenken, dass sich der Begriff der „Nation“ (der sich noch im heute fast schon antiquiert wirkenden Begriff „Nationalmannschaft“ widerspiegelt) in den letzten Jahrzehnten enorm gewandelt und relativiert hat.
So erforderte z.B. der Gewinn der Weltmeisterschaft 1954 (der ersten WM, an der Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg teilnehmen durfte) in der Schweiz einen hochbrisanten politischen Drahtseilakt.
Deutschland, das ja noch mit Kriegsteilnehmern wie z.B. Fritz Walter angetreten war, durfte sich zwar einerseits über den WM-Titel freuen.
Andererseits war aber gemäß der Ermahnungen und Warnungen des BRD-Außenministeriums extrem darauf zu achten, dass die Spieler und ihre Betreuer sich im Ausland und gegenüber den anderen teilnehmenden Nationen von ihrer besten Seite zeigten und als aufrechte Demokraten rüberkamen.
Insbesondere wollte man vermeiden, dass von Spielerseite auch nicht ansatzweise Töne laut werden, wonach Deutschland als Kompensation für den verlorenen Krieg zumindest im Fußball die „Weltherrschaft“ errungen habe.
Und im Wankdorf-Stadion in Bern bei der historisch ersten WM, die in zahlreichen Ländern live im TV übertragen wurde, war extrem darauf zu achten, dass nicht etwa sieges- und alkoholtrunkene Fans „Deutschland, Deutschland, über alles in der Welt“ singen und dabei womöglich auch noch den rechten Arm zum „deutschen Gruß“ emporrecken.
Denn das wäre eine absolute diplomatische Katastrophe für die erst seit 5 Jahren existierende BRD gewesen.
„Politisch“ war das Endspiel gegen Ungarn auch deswegen, weil Ungarn erst 10 Jahre zuvor das letzte Land war, das die Wehrmacht im 2. Weltkrieg gewaltsam besetzte - und zwar v.a. deshalb, weil man die sehr zahlreichen ungarischen Juden noch schnell der „Endlösung“ zuführen wollte.
Die Hälfte der ungarischen Mannschaft dürfte noch persönliche Erinnerungen daran gehabt oder dabei gar Familienangehörige verloren haben.
Andererseits waren schon die Vorboten des späteren ungarischen Volksaufstands von 1956 spürbar, die den Kapitän der Ungarn, Ferenc Puskàs, ins Exil treiben sollten. Fußball war also extrem politisch damals.
Auch beim WM-Sieg von 1974 war die Bundesregierung sehr nervös; und zwar nicht nur, weil die BRD das politisch äußerst aufgeladene Vorrundenspiel gegen den sozialistischen „Systemgegner“ DDR verlor.
Viel problematischer war die Tatsache, dass die BRD den WM-Titel gegen die Niederlande ausgerechnet im Münchner OLYMPIA-Stadion gewann.
Also nur wenige hundert Meter (!) entfernt von den Örtlichkeiten, wo erst 2 Jahre zuvor bei der Olympiade in München die israelischen Sportler von dem palästinensischen Terrorkommando „Schwarzer September“ ermordet worden waren und die Weltöffentlichkeit den deutschen Behörden Versagen vorwarf, weil sie es nicht verhindert hätten, dass auf deutschem Boden - und dann auch noch in „der Hauptstadt der Bewegung“ des Adolf Hitler - schon wieder Juden hinweg gemetzelt wurden.
Auch die politischen Spannungen zwischen den beiden Endspielgegnern waren keineswegs gering und lassen sich beispielhaft an zwei Personen illustrieren.
Rainer Bonhof, der das spielentscheidende 2:1 durch Gerd Müller vorbereitete, war nämlich eigentlich Niederländer. Sein erstes Spiel für die BRD-Juniorenauswahl 1969 bestritt er ausgerechnet gegen die Niederlande (!), obwohl er eigentlich noch niederländischer Staatsbürger war, und wurde erst nach diesem Spiel deutscher Staatsbürger - was die Holländer als Verrat empfanden.
Noch krasser war der Fall von Willi „Ente“ Lippens, der Stürmer-Legende von Rot-Weiß Essen, den ich noch live habe spielen sehen.
Lippens, der damals richtig gut war, wollte unbedingt für Deutschland spielen, wurde aber gezwungen, stattdessen für die Niederlande zu spielen.
Das sah dann laut Willi Lippens – Wikipedia so aus:
„Der Bondscoach František Fadrhonc lud ihn 1971 zur niederländischen Nationalmannschaft ein. Lippens debütierte am 24. Februar in Rotterdam beim 6:0-Sieg im Qualifikationsspiel für die Europameisterschaft 1972 gegen die Auswahl Luxemburgs. In seinem einzigen Länderspiel trug er mit einem Tor zum Ergebnis bei. Dennoch konnte man sein Debüt als nicht erfolgreich bezeichnen: Er wurde von den übrigen Niederländern fast nicht angespielt. Bezeichnend für das schlechte Verhältnis zwischen Lippens und dem Rest der Mannschaft war ein Vorfall auf dem Weg zum Spiel, als im Spielerbus ein deutscher Sender mit Schlagermusik lief. Lippens’ Mannschaftskamerad Rinus Israël reagierte darauf mit „Ich kann diesen Scheiß-Nazi-Sender nicht leiden!“ Auch Willem van Hanegem trug seinen Teil dazu bei, er sprach Lippens immer mit „Donald Duck“ an.“
Lippens, der sich stets als Deutscher gefühlt hatte, [6] hätte gerne für die deutsche Nationalmannschaft gespielt, wurde auch von Bundestrainer Helmut Schön für einen Einsatz favorisiert, aber die Deutschfeindlichkeit seines niederländischen Vaters, der im Zweiten Weltkrieg Opfer der Nationalsozialisten gewesen war, verhinderte einen Einsatz für die DFB-Auswahl.[7][8] Lippens äußerte sich über die diesbezügliche Einstellung seines Vaters folgendermaßen: „Er hat mir gesagt, dann bräuchte ich nicht mehr nach Hause kommen“.
Noch in den Länderspielen der 1960er bis 1980er Jahre war es äußerst wichtig, dass unsere Nationalmannschaft sich (insbesondere in Spielen gegen Gegner wie den historischen „Erbfeind“ Frankreich, wo es nun darum ging, gegenüber den misstrauischen Franzosen die neue „deutsch-französische Aussöhnung“ zu bekräftigen) absolut „korrekt“ verhielt und der Welt zeigte, dass die BRD ein Staat „aufrechter Demokraten“ sei.
Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum 2. Weltkrieg ließ das natürlich nach, doch nahmen die politischen Implikationen mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung wieder enorm zu - zudem die BRD ausgerechnet 1990 wieder Weltmeister und kurz darauf mit DDR-Nationalspielern angereichert wurde.
Teamchef Beckenbauer prägte damals den Satz, dass „Deutschland auf Jahre hinaus unschlagbar“ sei, wofür er im Ausland heftig kritisiert wurde, weil dies wieder verdächtig nach „deutscher Sucht nach Weltherrschaft“ zu klingen schien.
Die Siegermächte Großbritannien, Sowjetunion, USA und Frankreich, die ja u.a. den sogenannten „Viermächte-Status“ von Berlin konstituierten, waren 1990 aufgrund der Geschichte äußerst misstrauisch, was das (Wieder-)Entstehen eines enorm mächtigen kontinentalen Zentralstaats „vereinigtes Deutschland“ betraf.
Und als diese Vereinigung trotzdem (u.a. wegen Gorbatschow) geklappt hatte, war man im Ausland noch auf Jahre hinaus beunruhigt, ob sich das starke neue Deutschland auch wirklich als „Land aufrechter Demokraten mit Westanbindung an USA und NATO“ bewähren werde - und natürlich wurde auch die Nationalmannschaft aus diesen Gründen immer wieder ermahnt, sich gerade gegenüber anderen Nationen vorbildhaft zu verhalten und nirgendwo Anstoß zu erregen.
Heute im Zeitalter von EU und Globalisierung wirkt das alles extrem anachronistisch. Den jüngeren FCB-Fans auch hier auf MSR mag es unglaublich erscheinen, dass Europa in den Nachkriegsjahrzehnten bis zum sogenannten „Schengener Abkommen“ ein Flickenteppich von Nationalstaaten mit strengen Grenzkontrollen war.
Aufgewachsen bin ich nur eine halbe Autostunde von der niederländischen Grenze entfernt. Und wenn ich als Kind am Wochenende mit meinen Eltern nach Holland fuhr (u.a. peinlicherweise auch deshalb, weil dort Benzin, Kaffee und Zigaretten billiger waren als in der BRD), gab es oft einen einstündigen Stau an der Grenzstation. Und nach der sorgfältigen Ausweiskontrolle wurden wir manchmal eine halbe Stunde lang von den Zöllnern gefilzt, ob wir auch keine Schmuggelware dabei haben und mein Vater auch nicht z.B. wegen Kriegsverbrechen während der deutschen Besatzungszeit gesucht wird.
Ich habe all diese Beispiele aufgeführt, um den „Nachgeborenen“ zu illustrieren, wie eminent politisch im letzten Jahrhundert auch der Fußball in der Nationalmannschaft war.
Das alles ist nur schwer zu vergleichen mit der heutigen Situation, wo der Gedanke der „Nation“ in einem politisch vereinten Europa mit EU usw. auf- bzw. weitgehend untergegangen ist. Deswegen habe ich auch gewisse Zweifel, ob manche unserer aktuellen „National“-Spieler mit dem „Stolz auf ihre Nation“ noch viel anfangen können.
Auch Länderspiele in „Binnen-Europa“ haben aus den o.g. Gründen politisch beträchtlich an Brisanz verloren. Wenn z.B. Deutschland gegen Frankreich spielt, geht es heute nicht mehr um Rivalitäten zwischen zwei alten „Erbfeinden“, die seit 1870/71 drei große und verheerende Kriege gegeneinander geführt haben, denn Franzosen und Deutsche sind mittlerweile beide gleichberechtigte „Bürger der EU“.
Und es ist deshalb auch zweifelhaft, ob ein deutscher NM-Spieler heute noch „deutsche Werte und Tugenden“ repräsentieren muss - und die französischen Spieler „französische Werte“ -, oder ob diese Werte sich kaum noch voneinander unterscheiden, da es mittlerweile um „europäische Werte“ geht, die in den EU-Gesetzen verankert sind.
Trotz allem, was ich gesagt habe, ist aber gerade der Fußball (also z.B. „WIR gegen die Holländer“) mit seinen Fans vielleicht die letzte verbliebene klandestine Domäne des „Nationen“-Denkens. Aber die politischen Implikationen des Fußballs sind, wie ich oben dargelegt habe, m.E. bei weitem nicht mehr so brisant wie noch im letzten Jahrhundert.