@ChrisCullen: Danke für die Blumen! Freut mich, dass dir meine Bleiwüsten mehr gefallen als auf den Geist gehen. Bezüglich der investierten Zeit darf ich dich aber beruhigen. Die Zeit, die ich hier verbringe, ist weniger Investition als hedonistischer Konsum. 
Nun bin ich kein Experte für deutsche Buchhaltungsvorschriften und -praktiken (alles Basiswissen aus dem Studium) und noch weniger für die IFRS und US-GAAP, jedoch ist, soweit mir bekannt ist und ich recherchiert habe, das sogenannte „fair value accounting“ gemäß US-GAAP nicht zulässig, aber gemäß IFRS theoretisch schon, wird jedoch in der Praxis kaum angewendet, weil es sehr aufwendig ist (der Marktwert aller assets, für die fair value accounting angewendet wird, muss kontinuierlich in einem mehrstufigen Prozess neu bewertet werden).
Ausnahmen gibt es für den Bereich der financial assets wie Aktien, Anleihen, Futures und Optionen, wo die Feststellung eines fair value mit einem Blick auf die aktuellen Kurse noch verhältnismäßig einfach möglich ist, aber selbst hier ist das fair value accounting nach der Subprime-Krise von 2007f stark ins Feuer der Kritik geraten (aber letztendlich doch nicht abgeschafft worden).
Für alle anderen Assetklassen, und dazu würden dann auch immaterielle Vermögensgegenstände wie Spielerregistrierungen zählen, sind marktaktuelle Wertanpassungen nach US-GAAP nur in Ausnahmefällen und dann nur nach unten möglich, aber nie nach oben. Nach IFRS könnte man das wie gesagt theoretisch machen, ist aber für Assets, die nicht standardisiert sind und für die kein flüssiger Markt existiert - und dazu würde ich Profifußballer jetzt auch einmal zählen - extrem aufwendig und notwendig spekulativ und fehlerbehaftet. Daher wirst du auch in den USA oder in Ländern, die nach IFRS bilanzieren, große Mühe haben, auch nur einen Verein zu finden, der seine Spieler anders als nach historischen Kosten bilanziert. Ein ablösefreier Lewandowski wird tendenziell überall mit €1 (+ aktivierte Transfernebenkosten) in die Bilanz eingestellt werden.
Bei Fußballvereinen, deren Assets von Haus aus zu einem sehr bedeutenden Anteil aus immateriellem Spielervermögen bestehen (sonst eigentlich nur noch Stadion und Vereinsgelände und ein paar offene Forderungen und das war’s), sind natürlich die potenziellen Verzerrungen zwischen wahrer Wirklichkeit und bilanzieller Wirklichkeit beim Wert der Vermögensgegenstände relativ enorm. Denn Spieler haben gegenüber fast allen anderen Produktionsmitteln die einmalige Eigenschaft, dass ihr Wert während des Gebrauchs in der Regel sogar noch steigt, statt sich zu reduzieren, wie es bei jeder normalen Maschine der Fall wäre. Es passiert also regelmäßig, dass Spieler mit jedem Jahr in den Büchern weiter an Wert verlieren, während sie auf dem Platz weiter an Wert gewinnen und diese Schere dann nach einigen Jahren um dutzende Millionen Euro auseinander klafft.
Man könnte sich daher natürlich überlegen, ob man deinen Vorschlag aufgreift und die Spielewerte von einer unabhängigen, dritten Partei, beispielsweise einer Expertenkommission der FIFA oder einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft wie KPMG oder PwC, regelmäßig neu bestimmen lässt und die Buchwerte entsprechend anpasst. Aber ich sehe da schon ohne lange nachdenken zu müssen spontan mehrere Probleme:
Erstens ist mit 1000%iger Sicherheit garantiert, dass sich ständig irgendwelche Vereine bei der Bewertung ihrer Spieler benachteiligt fühlen werden - von den Fans ganz zu schweigen - und es daher andauernd zu öffentlichen Diskussionen und Querelen kommen wird, vielleicht sogar gerichtlichen, denn es geht hier im Zweifelsfall für einen Fußballverein um richtig viel Geld…
…denn, zweitens, wenn diese Kommission einmal einen Marktwert für einen Spieler festgelegt hat, wird es bei einem Transfer für die betroffenen Vereine sehr schwierig sein, in Verhandlungen untereinander noch deutlich von diesem Wert nach oben oder unten abzuweichen (wenn das überhaupt vorgesehen ist). Es entscheidet also über die Ablöse nicht mehr das Verhandlungsgeschick oder, wie auf einem Markt sonst üblich, Angebot und Nachfrage, sondern jemand drittes, der mit den beteiligten Vereinen eigentlich nichts zu tun hat.
Drittens besteht das nicht zu vernachlässigende Risiko, dass diese Expertenkommission, und seien es auch noch so hochmögende Finanzexperten von KPMG oder EY, empfänglich sind für Zuwendungen von außen und dann interessengeleitet und nicht mehr marktorientiert bewerten. Wenn diese Leute direkt von der FIFA oder UEFA kommen, ist das Risiko noch mal höher, wenn man sich mal den track record dieser Organisationen in Sachen Korruption vor Augen führt.
Grundsätzlich hat man, viertens, mit so einer Kommission einen „single point of failure“ in allen möglichen Beziehungen, nicht nur der Korruption, und sowas ist nicht nur nicht mit einem marktwirtschaften Gedanken kompatibel, sondern auch strukturell ineffizient. Wenn die Experten unfähig sind, aus irgendeinem Grund gerade nicht arbeitsfähig, bestechlich, in einem Verfahren vor Gericht… et cetera pp. und deswegen gerade keine Spielewerte anpassen können oder dürfen, dann haben die Vereine, die aktuell ihren Jahresabschluss einreichen müssen oder Spieler transferieren wollen und dafür auf aktuelle Marktwerte angewiesen sind, ein Problem.
Fünftens sind all diese Überlegungen samt und sonders sowieso vollkommen hypothetisch, weil kein vernünftiger und rational denkender Mensch den Wert eines prinzipiell jeden Tag eine karriereendende Verletzung erleiden könnenden Spielers mit einem Wert oberhalb seines Einstandspreises bewerten würde, also desjenigen Preises, den der Verein wirklich für ihn bezahlt hat. Die Lewandowskis mit €1 blieben also weiterhin der Fall.
Kurzum, ich halte diese Überlegungen zwar im Hinblick auf ihre gedankliche Stoßrichtung, der Schaffung von mehr Bilanzwahrheit, für interessant, aber für praktisch nicht umsetzbar.
Glücklicherweise wäre volle Bilanzwahrheit interessant vor allem für Investoren, und deren Akquisitionsmöglichkeiten sind im Fußball in Deutschland ja bekanntlich limitiert. Und den Scheichs, Oligarchen und Industriemagnaten in England und den anderen Ländern sind ein paar Dutzend Millionen Euro plus minus in der Bilanz beim Kauf völlig egal.
Re. stille Reserven: Ich bin zwar kein glühender Anhänger der efficient market hypothesis, aber ich glaube tendenziell schon, dass dort, wo besonders viel hidden value vermutet wird, auch besonders viele Augen hingucken und dementsprechend der value nicht besonders hidden ist. Was „Wall Street“ thematisiert hat, war ja eine Form illegalen Insiderhandels, das hat mit stillen Reserven nur sehr bedingt zu tun.
Und weil im Zweifelsfall, außer beim fair value accounting von financial assets, die Vermögensgegenstände auf der Aktivseite einer Bilanz prinzipbedingt durchgängig eher zu hoch als zu niedrig angesetzt sind, wird es auch immer und überall stille Reserven geben (und nur die wenigsten davon interessant sein für Investoren). Für mich überwiegen unter dem Strich die Vorteile strukturell zu niedrig angesetzter Vermögenswerte die Nachteile einer mangelnden Bilanzwahrheit deutlich.