Der Politik- und Gesellschafts-Thread (Teil 3)

Ich gehe im Folgenden auf deinen Post zum Thema „Sportjournalismus“ (Mitbewerber-Bundesliga/International- Thread) ein, lieber @Alex, den ich sehr lesenswert und wie immer lehrreich finde :+1:. Da meine Antwort Teil 1 etwas ausuferte, bevor sie sich überhaupt mit deinen Ausführungen zum Sportjournalismus auseinandersetzen konnte, verschiebe ich sie hierher in den Politik-Thread - hoffentlich mit deiner Zustimmung.
Hier der Link zu @Alex vollständigem Artikel zum Sportjournalismus - bitte lesen!

Mein Artikel bezieht sich nur auf deine ersten, noch nicht sportspezifischen Absätze.

Ich bin kein Antikapitalist. Woher nimmst Du das? Hab ich je irgendetwas behauptet, was belegt, dass ich ein antikapitalistisches Wirtschaftssystem fordere? Zitate?
Das ist ebenso aus meinen Äußerungen zusammengereimt wie umgekehrt mein

Der einzige Unterschied in puncto ökonomischem Standpunkt zwischen uns beiden ist, dass ich bei der Bewertung dessen, was besser nicht „durch den Markt geregelt werden“ sollte, vermutlich zu anderen Ergebnissen komme.

Die von Dir genannten Beispiele hätte ich genauso genannt. Und dass ich dir unterstellen wollte, Du würdest

für sinnvoll halten, weil es eine Nachfrage danach gibt, das ist eher billiger rhetorischer Populismus, den keiner von uns beiden nötig hat und der uns beiden auch nicht gerecht wird.

Ich setz deine Liste der verabscheuungswürdigen Märkte mal fort:

  • Drogenhandel? Klar.
  • Menschenhandel und Schlepperbanden? Klar.
  • Zwangsprostitution? Klar.
  • Waffenhandel und Kriegsgewinn? Klar… äääh.
  • Unregulierte Kapitalakkumulation in den Stockmarkets durch Hedgefonds, die über höhere Budgets als die der Staatshaushalte verfügen? Neee, also … der Kapitalmarkt muss weiter dereguliert bleiben.
    Wie Ryan Gosling in The Big Short erklärte: „Wenn die Hypothekenanleihen das Streichholz waren und die CDOs die kerosingetränkten Lappen, dann waren die synthetischen CDOs die Atombombe, über deren Knopf ein betrunkener Präsident den Finger hielt."
    (CDOs, zu deutsch: gesicherte Schuldverschreibungen, bewirkten im sub-prime-Kollaps der US-amerikanischen Immobilienblase 2008 in etwa das, was Wasser bei einem Fettbrand bewirkt…:bomb::boom::volcano::firecracker:)

Ich nehme dein Beispiel Kinderarbeit.
Geht unsere Politik entschieden genug gegen Profiteure von Kinderarbeit vor? Verbot des Verkaufs von Textilien aus Kinderarbeit etwa? Konsequente Durchsetzung des Lieferkettengesetzes, etwa in der Schokoladenindustrie?
Selbst wenn politisch gewollt, wie bei der Bekämpfung der Kinderarbeit: Multinationale Konzerne entziehen sich der nationalen Gerichtsbarkeit oder arbeiten mit Lieferanten zusammen, die das Lieferkettengesetz vor Ort brechen. Und in unseren Supermärkten liegt weiterhin Schokolade aus den Cacao-Plantagen der Elfenbeinküste und Ghanas. 1,5 Millionen Kinder arbeiten dort, zum Teil von Sklavenhändlern aus Mali und Burkina Faso verschleppt.
Nestlé, Mars, Lindtt, Storck und Ferrero unterzeichneten 2001 ein freiwilliges Protokoll zur Abschaffung der Kinderarbeit im Kakaoanbau – das nach zwei US-Senatoren benannte Harkin-Engel-Protokoll. 2020 kam eine Studie der US-Regierung zum Ergebnis, dass die Kinderarbeit seit 2000 nicht abgenommen, sondern im Gegenteil sogar zugenommen hat.

Aber solange Primark T-Shirts aus asiatischer Kinderarbeit für 3 € und unsere Supermärkte Schokolade für 79 Cent anbieten dürfen, gibt es auch einen Markt dafür. Und von den extremeren Beispielen der Kinderarbeit (Arbeit in den afrikanischen Fördergruben für seltene Erden, Silber, Gold, Edelsteine, Platin) und deren Nutznießung haben wir noch gar nicht angefangen…

Wir beide gehen bei der moralischen Bewertung der Märkte, die reguliert werden sollten, lediglich unterschiedlich weit. Ich bewerte Exzesse des Kapitalismus (vermutlich) verschieden wie Du. Und bekämpfe diese Exzesse vehement argumentativ und politisch.
Ich habe ein Jahr Lebenserfahrung in puncto Staatskapitalismus der UdSSR und weiß, wie sich eine völlig versagende Ökonomie unter der Diktatur einer pseudoproletarischen Gerontokratie anfühlt, wenn man dort lebt. Ich weiß, was Korruption, Seilbande, Überwachung, Günstlingswirtschaft, Lobbyismus, totalitäre Repression, Manipulation der öffentlichen Meinung und jahrzehntelange Misswirtschaft mit Menschen machen. Deswegen bekämpfe ich sie, wo immer ich ihnen begegne. Über den Titel „Antikapitalist“ kann ich nur müde schmunzeln.

Ich war froh, die Gesundheitsversorgung in deiner Liste der Bereiche zu finden, die nicht unreguliert dem Markt überlassen werden dürfen.
Dann machen wir uns demnächst gemeinsam an die Deprivatisierung des deutschen Gesundheitswesens? Nein?
Na, zumindest sollten alle arbeitenden Menschen gleichermaßen in die staatliche Gesundheitsversorgung einzahlen? Auch nein? Wenigstens die Regelung einer Beitragsbemessungsgrenze für KK-Beiträge infrage stellen? Auch nein?

Du siehst: Bis die Menschheit bessere Lösungen für ökonomische Fragen als die der kapitalistischen Produktionsweise gefunden haben wird (und das hat sie noch nicht), streiten wir lediglich über das Wie, nicht jedoch über das Ob.
Du musst dich vermutlich mit dem Gedanken anfreunden, dass es linke Kapitalisten gibt - auch wenn‘s vielleicht n bisschen wehtut, weil das praktikablere Feindbild vom naiven sozialistischen Träumer flöten geht.
So wie ich den real existierenden Sozialismus von links attackiert habe, tue ich es auch mit der Wirtschaftsform, die in manchen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erstaunliche und kaum für möglich gehaltene Fortschritte für die Lebensbedingungen vieler Menschen ermöglichte: mit dem Kapitalismus.
Um es mit Deinen Worten zu sagen:

Das unterschreibe ich Wort für Wort. (Woher stammt dieses Zitat? Interessehalber…)
Und entschuldige mich, wenn Du bisher den Eindruck gewinnen musstest, ich würde Dir unterstellen, „Freie Märkte überall und am besten unreguliert“ anzubeten. Mir ist klar, dass Du das viel differenzierter betrachtest. Allerdings musst Du mir gestatten, dass ich im Lager des ökonomischen Neoliberalismus viel weniger Vertreter deiner Reflektiertheit finde, dafür umso mehr Apologeten der Heiligen Kuh (resp des Holy Bull) Marktderegulierung. Und da vergleiche ich schon mit Aspekten einer angebeteten Religion - oder dem Tanz um das goldene Kalb. (Prima, Bulle, Kuh, Kalb - da hätte mer die Heilije Famillich ooch sprachlich beienand!)

Über die weitere Entwicklung des Kapitalismus und das regulatorische Abstecken seiner Spielfelder im 21. Jahrhundert streiten wir uns gerne weiterhin.
Als erklärte Kapitalisten :wink:

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