Ich halte von Religion auch nicht viel, aber nicht aus den Gründen, die Du vorträgst, sondern weil ich sie intellektuell unbefriedigend finde (auch wenn Kant die transzendentale Idee von Gott als notwendigen Schluss der reinen Vernunft ansah).
Du hast zwar mit Deinen Beispielen zu der Instrumentalisierbarkeit von Religion zur Begründung der Notwendigkeit der Ausübung großen Unrechts recht, aber das liegt nicht daran, dass die Begründungsstrukturen Religionen sind, sondern dass es absolute Ideen sind, auf die sich die Leute zur Motivation oder Begründung ihrer Handlungen bedienen. Auch im Namen des Kommunismus und Sozialismus, die mit Religion im engeren Sinne (Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus, whatever) nun wirklich gar nichts am Hut haben, sind historisch unbeschreibliche Verbrechen gegen die Menschheit verübt worden.
Religion ist weder notwendig noch hinreichend für die Ausübung von menschenverachtender staatlicher Gewalt oder Kontrolle bzw. Unterdrückung der eigenen Bevölkerung. Der Kommunismus hat gezeigt, dass beides auch perfekt ohne den Rückgriff auf Religion möglich ist, und es gibt auch umgekehrt auch zahllose Länder auf der Welt, die immer noch einen hohen Grad organisierter Religion haben (z. B. Deutschland), die aber trotzdem weder nach innen noch nach außen besonders gewalttätig sind. Übrigens, in dem von Dir erwähnten China ist es perverserweise ja sogar so, dass eine säkulare Gruppe (die Chinesen) eine religiöse Gruppe (die Uiguren) wegen ihrer Religion unterdrückt, und nicht umgekehrt. Hier sind also die Laien die Fundis und nicht die Religiösen, die die Opfer sind. Also ist es sogar so, dass auch Säkularität weder notwendig noch hinreichend für Friedfertigkeit ist.
Was die von Dir angesprochenen Querverbindungen von Esoterik und Spiritualität - also im weitesten Sinne Religion - mit Rechtsextremismus angeht, so kann ich über deren Gründe auch nur spekulieren.
Ich kann mir z. B. vorstellen, dass die besondere Attraktivität solcher transzendenten Ideen darin liegt, dass sie zum einen ein einheitliches, gemeinsames System von Glaubenssätzen bereitstellen, hinter dem man Menschen versammeln kann, und dass sie zum anderen aber auch, was den konkreten Inhalt angeht, sehr breit anschlussfähig sind. So kann man dann ohne große Adaptionsverluste mit einer „germanischen Medizin“ oder einem Thule-Mythos, in dem solche disparaten Konzepte wie Antisemitismus und ein protogermanischer, nordischer Volksmythos problemlos verheiratet werden können, um die Ecke kommen, und jeder macht mit.
Angesichts dieser Möglichkeit einer fazilen Verbindung der Fähigkeit, Menschen in einem gemeinsamen System von Glauben und Ritualen verbinden zu können, mit knallharten weltlichen Ideen wie Antisemitismus und Rassismus in einem gemeinsamen spirituellen Haus leuchtet mir schon ein, warum Esoterik und Spiritualität potentiell sehr attraktiv für politische Ideologen (nicht nur rechte, aber auch) sind.