@solari: Davon gehe ich ganz stark aus. Und das ist im Prinzip ja auch vernünftig. Wenn das Ziel ist, so viele Spiele wie möglich zu gewinnen, ist der Logik, den eigenen Spielansatz hinsichtlich größtmöglicher Gewinnwahrscheinlichkeit zu optimieren, rational ja nur schlecht zu widersprechen.
Nagelsmann ist in meinen Augen durch und durch ein „Fußball-Wissenschaftler“ und ich bin mir sicher, dass das statistische Denken, das Denken in Wahrscheinlichkeiten, das Denken in Modellen und Optimierungsproblemen genau sein Zugang zum Spiel ist.
Ich halte diesen Ansatz, wie gesagt, für hoch vernünftig, wenn man denn in seinen (Gedanken-)modellen, die einem das Spiel strukturell und prozessual abbilden, alle relevanten Parameter erfasst hat, so dass man sie sinnvoll auf eine Maximierung der Gewinnwahrscheinlichkeit hin optimieren kann.
Bei Modellen eines bestimmten weltlichen Sachverhalts besteht immer ein trade-off zwischen Detaillierungsgrad und Facettenreichtum auf der einen und Praktikabilität in der Anwendung und Allgemeingültigkeit der Aussagen auf der anderen Seite.
Ich glaube, auf einem ganz abstrakten high-level-Niveau kommt Nagelsmanns modellierte Idealvorstellung von einem Fußballspiel dem, was wir hier bereits seit Wochen unter dem Label „Zentrumsfokus“ diskutieren, schon ziemlich nahe. Der Zentrumsfokus bietet einen ziemlich guten Kompromiss aus Energieeffizienz, Raumabdeckung und Spielkontrolle in jeder Phase des Spiels. (Warum ich das glaube, Details mit Grafiken hier.) Wenn man ihn gewissenhaft und ideengetreu umsetzt, dürfte er dem theoretischen Ideal eines gewinnwahrscheinlichkeitsmaximalen Spielansatzes schon ziemlich nahe kommen und ich glaube, dass Nagelsmann genau in solchen Kategorien denkt und dass dies der Grund dafür ist, warum er das Spiel grundsätzlich vom Zentrum her denkt und plant.
Ich kann Eure Einwände, die Ihr mir gerade gedanklich entgegenschleudert, quasi schon von meinem geistigen Auge lesen und natürlich kann der Zentrumsfokus als abstraktes, handlungsleitendes Prinzip nur die Ausgangsbasis für die konkrete Spielplanung in der Spieltagswoche sein, in der Nagelsmann selbstverständlich noch eine ganze Reihe weiterer, tagesaktueller Parameter wie z. B. die körperlichen Fitness seiner Spieler, die ja täglich mit diversen Trackern und Metriken auf einer ganzen Bandbreite von Parametern im Training erfasst wird, in seine Überlegungen einbezieht.
Bei diesem stets neu vorzunehmenden Verfeinerungs- und Adaptionsprozess den bestmöglichen Kompromiss zu finden zwischen Prinzipientreue (Zentrumsfokus), gar nicht mal so sehr aus ideologischer Starrköpfigkeit heraus, sondern aus Gründen zwingender statistischer Plausibilität, und situationsgebotener Anpassung an tagesaktuelle Umstände wie Spielerverfügbarkeit, Formkurve, Fitness, Gegner, Spieltagskalender usw., erkennend, in welchem Maße sie seine Modellannahmen und Wahrscheinlichkeiten wie beeinflussen, ist die große Kunst, die Nagelsmann vollbringen muss.
Ich glaube, rein auf der taktischen Ebene dürfte Nagelsmann sich bei diesem wöchentlichen Anpassungsprozess nicht vor unüberwindbare Probleme gestellt sehen. Ich glaube, das schüttelt er aus der Hand, er hat ein taktisches Verständnis, dass das der meisten anderen Trainer übertreffen dürfte. Ich glaube, in welchem Bereich Nagelsmann momentan für seine Verhältnisse noch vergleichsweise viel Verbesserungspotential hat, ist in der Beherrschung der „soften“ Faktoren des Trainerdaseins auf der Beziehungs- und Kommunikationsebene, wie etwa einem intuitiven Verständnis für den richtigen Umgang mit einem Spieler in einer bestimmten Situation, dem Gespür dafür, was man als Trainer wann wo zu wem wie sagt, welche Zeichen und Symbole man setzt und dergleichen mehr. Diese Faktoren kann man nicht so schön modellieren und auf einer Skala abtragen wie Fitnesswerte oder die Zahl der intensiven Läufe, aber sie beeinflussen die tagesaktuelle Leistung der Spieler ebenfalls und wären damit prinzipiell für Nagelsmann planungsrelevant. Außerdem hätte er hier die Chance, durch klugen Umgang mit seinen Spielern neben den 90% Leistung durch physische Fitness im Training auch noch die letzten 10% durch „psychische Fitness“ infolge zufriedener Spieler mit guter Stimmung freizusetzen.
Ich glaube allerdings nicht, dass diese „soften“ Defizite Nagelsmanns unheilbar sind. Für manche davon, wie vielleicht einen möglichen Standing-Nachteil in der Kabine wegen fehlender Erfahrung und Titel, kann er schlicht nichts, andere lassen sich mit der Zeit erwerben und perfektionieren. Auch gute Kommunikation mit Spielern und über Spieler (z. B. gegenüber der Presse) ist keine Frage der Persönlichkeit, die Fähigkeit dazu ist nicht vererbt oder gottgegeben und Nagelsmann hätte nicht genug davon abbekommen, sondern sie ist eine erworbene Fähigkeit und ihre Perfektion eine Frage der Übung.
Das dürfte Nagelsmann sehr entgegenkommen. Denn er ist ja ein sehr schneller und begieriger Lerner. Seine Neugier, seine Wissbegier, seine Offenheit für Neues, seine Experimentierfreudigkeit sind vielleicht seine größten natürlichen Assets, die ihn von vielen anderen Trainern, die mit weniger zufrieden sind oder Nagelsmanns natürlichen Drive nicht mitbringen, absetzen. Auf vielen Ebenen, zuvorderst der taktisch-technischen, ist Nagelsmann Trainern wie Ancelotti, Mourinho, wahrscheinlich 90% aller Trainer überhaupt schon jetzt um einiges voraus, der Rest kommt mit Übung, Erfahrung und Alter. Nagelsmann hat definitiv das Potential, in 20 Jahren der dann beste aktive Trainer im europäischen Profifußball zu sein, vielleicht dann sogar gerade während seiner zweiten Amtszeit bei den Bayern.