Vorschau: Der BVB zwischen Realismus und Träumerei

Jeder neue Innenverteidiger bei Bayern hat das Problem, dass er mit Peak-Boateng und Peak-Alaba verglichen wird.
Es gab sehr viele, auch wichtige Spiele, da sahen die beiden schlechter aus als Upamecano und Hernandez am Samstag.
Was die beiden im Moment da hinten zusammenfabrizieren ist für unsere Ansprüche klar zu wenig, so zu tun, als hätten wir in den letzten Jahren nur fehlerfreie Bollwerke hinten stehen gehabt, geht aber auch an der Realität vorbei.
Wenn ich sehe wie hoch wir am Samstag standen, wie unsere Verteidiger im Stich gelassen und ins Laufduell mit Haaland gejagt wurden, da kannst du nur schlecht ausschauen. Wenn das so gewollt war, dann haben wir keinen Trainer sondern einen Zocker an der Seitenlinie.
Ich hoffe diese Spielweise vom Samstag war nur eine Ausnahme, auf Dauer geht das nicht gut.

Im November 2018 verloren wir übrigens in einem ebenso wilden Spiel wie am Samstag mit 2-3 in Dortmund. Unsere Viererkette bestand aus Alaba, Boateng, Hummels und Kimmich. Damals war der Trainer schuld :grinning:
Dieses Spiel kam mir Mitte der zweiten Halbzeit öfter in den Sinn, in dieser Phase des Spiels habe ich auch gedacht, eher macht Dortmund das 3-2 als wir.

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Ich vergleiche ja bewusst mit vielen IVs der letzten Jahre. Was fehlt, ist die Mischung: 1-2 Topleute, die den Rest hoch- und mitziehen.

Und natürlich muss es schlechte Tage geben: Fußball ist ja ein Fehlerspiel.

In den ersten Jahren hatte Boateng bei uns auch grauenhafte Spiele, das wurde erst später besser mit ihm, wenn ich mich recht erinnere, oder?

Schon, aber was bedeutet das? Hoffnung für Upa? Die anderen sind für einen Sprung schon zu lange dabei…

Ich hoffe zumindest darauf, ja. Durch die ganzen Ausfälle hatten wir ja auch echt einige Umstellungen in der Abwehr. Trotzdem stehen einige Spieler scho weit hinter den Erwartungen zurück. (Pavard, Hernandez, Upamecano)

Unabhängig vom Niveau der einzelnen Spieler kann und muss man eins festhalten:
Wirklich gut sah unsere Abwehr in den letzten Jahren immer dann aus, wenn der Rest der Mannschaft verhindern konnte, dass die Gegner mit Tempo auf die letzte Reihe zulaufen konnten. Egal wie die Besetzung hieß, wichtig war, dass man den Gegnern keinen Raum bot. Die von Wohlfarth oben angesprochene Abwehr um Alaba, Hummels, Boateng und Kimmich war sicherlich durchwegs mit guten Spielern bestückt, konnte aber z.B. in Dortmund nichts ausrichten, weil kein Druck aus dem Mittelfeld da war. Eine Woche nach dem besagten 2:3 im November 2018 wurde es beim 3:3 im Heimspiel gegen Düsseldorf ja noch blamabler. Eine ähnlich besetzte Abwehr hat dann ein paar Monate später beim 0:0 beim späteren CL-Sieger in Liverpool eine ziemlich beachtliche Leistung hingelegt, weil sie Unterstützung erhielt. Diese Unterstützung ist derzeit kaum gegeben. Das mag an der taktischen Ausrichtung liegen oder aber auch an fehlender Bereitschaft weiter vorne die letzten Meter zu gehen und wahrscheinlich auch an der derzeitigen Besetzung des Mittelfeldes. Natürlich entschuldigt das nicht die individuellen Fehler der Abwehrleute. Ich sehe da aber durchaus einen Zusammenhang. Je mehr Tore man bekommt, weil das Gesamtabwehrverhalten der Mannschaft nicht passt, desto unsicherer agieren die Spieler in der Abwehrreihe und machen dann Fehler in einer Häufigkeit, wie sie ihnen sonst nicht passieren. Als es gruppentaktisch besser stimmte, waren individuelle Fehler auch seltener zu sehen.
Das ist übrigens kein Phänomen das nur Bayern betrifft. 2014 war Sergio Ramos beim CL-Sieg von Real defensiv eine Bank. Ein paar Wochen später sah er als Abwehrchef der spanischen Nationalelf bei deren Debakel gegen die Niederlande wie ein Schuljunge aus.
Lucio, der in den Jahren vorher, immer wieder bei uns für Böcke gut war und immer häufiger überlaufen wurde, konnte gemeinsam mit dem eher langsamen Mittdreißiger Walter Samuel beim CL-Sieg von Inter 2010 eine bombensichere Abwehr bilden, die sogar Barcelona zur Verzweiflung trieb. Unser Gegenstück dazu im CL-Finale war mit Demichelis und van Buyten jetzt nicht wirklich so viel schwächer besetzt. Bei Inter schaffte man es aber, die Räume hinten eng zu gestalten, während unsere Abwehrspieler zu viel Raum verteidigen mussten.
So etwas kannst du vielleicht gegen die Spitzenstürmer schaffen, wenn du einen van Dijk in Überform hinten hast, aber die meisten Abwehrspieler im Weltfußball würden derzeit mMn als FCB-Verteidiger kaum besser aussehen, als unsere Abwehrreihe.

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Da stimme ich Dir komplett zu.
Ich vermute das Problem auch in der gesamten Defensivarbeit der Mannschaft und evtl. insbesondere im defensiven Mittelfeld vor der Abwehr.

Durch den quasi Heiligenstatus von Kimmich und Goretzka als unantastbares Mittelfeldduo wird darüber kaum diskutiert. Beide haben meiner Meinung nach aber Ihre Stärken mit Ball bzw. im hohen Anlaufen (v.a. Goretzka).

Fehlt uns also ein klassischer (tiefer) 6er für die Drecksarbeit, ein Abräumer vor der Abwehr, um stabiler und sicherer zu stehen und unsere letzte Reihe zu unterstützen?

Dazu würde mich auch die Meinung der Experten hier interessieren.
Vllt. kann @justin und/oder andere dazu kurz was schreiben? Würde mich freuen :slight_smile:

Kann natürlich auch sein, dass meine These reine Stammtisch und Kreisliga-Expertise ist :smiley:

Vorweg: Das wäre natürlich eine Lösung. Allerdings auch eine, die die Defensive priorisiert. Stellst du da einen Typus Casemiro oder Martínez hin, beschneidest du dich im modernen Fußball womöglich deiner Offensivkraft ein wenig. Die Frage ist halt immer, wie du die Prioritäten legst und wie du balancieren möchtest bzw. zu welchem Preis. Bollwerk + Offensivspektakel sind nur schwer zu vereinen und da braucht es so viele Dinge, die gleichzeitig zusammenpassen.

Wenn Pavard RV spielt und konsequent tief bleibt, man also eine Dreierkette als Absicherung hat, ist das mMn nicht zwingend notwendig. Dann kann ein IV immer in diesen Raum vorstoßen. Das ist auch eine der größten Stärken von Hernández. Ich finde auch, dass die Bayern nicht im defensiven Zentrum die größten Probleme haben, sondern eher auf den Flügeln. Da bekommen sie zu selten den Zugriff auf den Ball und erlauben es den Gegnern gefährlich zu verlagern. Rückwärtsbewegung ist auch oft nicht gut. Beim zweiten Dortmunder Tor wird eigentlich alles deutlich, was Bayern im Moment nicht gut macht in der Defensivarbeit. Das hat oft auch einfach mit fehlender Bereitschaft zu tun, ist in der Häufigkeit aber jetzt nicht mehr einfach nur damit abzutun und da muss ich mein Eingangsstatement korrigieren: Es ist dann eben doch auch ein wenig systemisch. Aber dazu kommt diese Woche noch ein Artikel. Und ich glaube weiterhin, gerade weil die Bayern das diese Saison schon deutlich besser gemacht haben, dass Zeit dieses Problem beheben wird. Bzw. das, was in dieser Zeit passieren wird. Auch die teils harschen Abgesänge auf Upamecano (manchmal auch Hernández) würde ich nicht teilen.

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Justin hat doch bzgl Kimmich ausführlich analysiert. Natürlich muss er sich weiter verbessern, aber viele internationale Experten sehen in ihm jetzt schon den besten 6er.
Wir spielen jetzt eben anders als mit Xabi oder Lahm auf der 6.
Die Zeiten der klassischen Doppel 6 ala Schweinsteiger/ Javi sind schon lange vorbei.

Wie sehr Kimmich uns fehlt haben wir doch in den letzten 6-8 Wochen gesehen, oder auch vor einem Jahr als er verletzt war.
MMn muss Kimmich noch ein Tick mehr Gespür entwickeln, wann er das Spiel beruhigen muss.
Aber sonst?

Die IV müssen eben in der Lage sein in unserem System richtig zu verteidigen und zu eröffnen.
Hat viel mit Stellungsspiel und Passspiel zu tun.
Einen Staubsauger wird es so oder so nicht geben.

Einer der IV muss heute ein Hybrid IV/klassischer 6 er sein.
Pep hat viele ausprobiert. Jetzt hat er mit Dias diesen Typen gefunden. Ob Upamecano Lucas Süle jemals diese Rolle spielen können? Time will tell.

Ich sehe das so wie Du:

Die IV gefällt mir zwar nicht, ist aber sicher nicht isoliert zu kritisieren.

Wir hatten in der Vergangenheit mit Javi, Schweini und Lahm immer auch defensiv starke 6er. Dieses „Gen“ haben Kimmich und Goretzka nicht.

Justin spricht gute Punkte an; auf die Analyse bin ich gespannt.

Insgesamt fand ich das Nagelsmann-Spiel bis Ende Oktober schon recht strukturiert - der Schlendrian ging danach los, praktisch zeitgleich mit Kimmichs Ausfall. Zufall oder eher nicht?

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Zusatz:

Ein großes Problem in dieser Saison ist doch auch das Goretzka aus welchen Gründen auch immer noch nicht in Form ist.

Sabitzer hat bisher nullkommanull Entlastung bringen können.

Tolisso verletzt und dann wiederum zeigt warum er den FCB verlassen wird.

Roca verletzt und auch dann unter Nagelsmann keine Rolle spielt und nicht eingesetzt wird.

Cuisance sowieso schon lange abgeschrieben ist.

Kurzum ein adäquater Thiago Ersatz bis heute nicht verfügbar ist.

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Goretzka gehört sicher zu den Spielern, die von der Systemumstellung am wenigsten profitieren, eher im Gegenteil. Konnte er bei Flick immer wieder in die Box oder die gefährlichen Zonen vorstoßen, ist der Weg nun für ihn versperrt, da mit Müller und Sané jetzt zwei Spieler in diesen Räumen vor ihm stehen.

Scheint mir eine gewisse Logik im Zusammenhang mit Nagelsmanns Zentrumsfokus zu haben.
Du kannst nicht überall auf dem Platz gleich stark sein.

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Richtig. Er will ja den Gegner zwingen, nach Ballverlust über außen zu gehen, und die gefährlichen vertikalbälle durchs Zentrum verhindern.
Umso wichtiger ist dann das Stellungsspiel der IV, aber insbesondere auch des ballfernen AV.

Natürlich, aber wenn du dann auf außen schiebst, darfst du die ballferne Seite und auch das Zentrum nicht so blank lassen. Schau dir beispielsweise das Haaland-Tor nochmal in der Entstehung an. Gut auf außen gelenkt und eigentlich auch das Personal, um Schlimmeres zu verhindern, aber das Mittelfeldzentrum (und insofern ist es dann doch ein Problem) schiebt nicht gut mit und die Spieler auf außen treffen falsche Entscheidungen. Schon bist du ohne Not offen. Das wäre alles noch verkraftbar, wenn du dann entsprechend die Mitte verteidigst, um den Gegner nicht wieder reinzulassen, aber sobald Dortmund mal durchkam nach vorn, kamen sie auch wieder ins Zentrum oder auf die ballferne Seite und das zu verhindern, ist die große Aufgabe für Nagelsmann.

Nagelsmann gerade in der PK

Nagelsmann zur Defensive

„Wir sind eine Mannschaft, die sehr viel Ballbesitz hat. Die Mannschaft will sehr viele Tore schießen und wir haben viel offensives Personal. Daraus folgt, dass man unglaublich gut sein muss in der Restverteidigung und im Gegenpressing. In einige Situationen hatten wir auf der Ballseite zu wenig Druck und die ballferne Seite schließt nicht so gut. Daraus entstehen Räume, das haben die Gegner teilweise gut genutzt. Das wollen wir in Zukunft verbessern, um die nächsten Schritte zu gehen. Wir haben eine neue Struktur in der Defensive. Es geht darum, was bei Ballverlusten passiert. Das machen wir in Phasen gut, aber in Phasen auch mal nicht so gut - deshalb haben wir teilweise Gegentore bekommen.“

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Mal abgesehen vom eigenen Empfinden wollte ich mal einen Blick Statistiken werfen um in die Diskussion vielleicht nochmal eine neue Seite zu bringen. Ich habe dazu einfach mal auf Understat.com die Daten der ersten 14. Spiele für die Saisons seit 2014/15 abgefragt. Dazu habe ich als weiteren Betrachtungszeitraum auch noch die ersten 14 Spiele unter Flick gesondert gefiltert, da ich seine Statistiken zum Start nicht unter den Tisch fallen lassen wollte.

Ich habe mir dafür die Kategorien Tore, Gegentore, Punkte, expected Goals (xG), expected GoalsAgainst (xGA) und expected Points (xPTS) angeschaut.

Hier die Rohdaten zum aufklappen:
Saison Tore Gegentore Punkte xG xGA xPts
14/15 33 3 36 30,35 8,53 33,25
15/16 42 5 40 43,19 6,14 38,82
16/17 34 9 33 28,91 11,26 29,67
17/18 34 11 32 30,29 12,94 30,16
18/19 28 18 27 30,77 12,07 31,20
19/20 35 20 24 36,01 17,38 29,91
Flick 44 10 34 44,74 15,19 33,30
20/21 44 21 33 30,64 16,83 25,42
21/22 45 15 34 43,71 11,41 35,41

Und bevor ich nochmal genauer in meine Erkenntnisse daraus einsteigen möchte, habe ich nochmal jede der angegeben Daten in ein Ranking gepackt und dann einen Durchschnittsplatz ermittelt.

Die Tabelle hierzu:
Saison Tore Gegentore Punkte xG xGA xPts Gesamt Durchschnitt
15/16 4 2 1 3 1 1 12 2
21/22 1 6 3 2 4 2 18 3
Flick 2 4 3 1 7 3 20 3,3
14/15 8 1 2 7 2 4 24 4
16/17 6 3 5 9 3 8 34 5,66
17/18 6 5 7 8 6 6 38 6,33
20/21 2 9 5 6 8 9 39 6,5
18/19 9 7 8 5 5 5 39 6,5
19/20 5 8 9 4 9 7 42 7

Also primär bestätigen die Daten erstmal mein Gefühl, dass die Saison 15/16 einfach unfassbar gut war. Natürlich muss man hervorheben, dass Guardiola da schon in sein drittes Jahr ging, aber die Zahlen sprechen einfach für sich.
Auch das Gefühl, dass die Zeit von Kovac eher suboptimal lief, kann man anhand der Daten schnell belegen. Hier sei einschränkend nochmal darauf hingewiesen, dass in 18/19 und 19/20 nur die ersten 14 Spiele betrachtet wurden und die jeweiligen Aufholjagden nicht in der Statistik auftauchen.
Nun aber zum eigentlichen Thema, Julian Nagelsmann.
Die Statistiken sprechen für mich eine klare Sprache. Die ersten Spiele unter Nagelsmann sind vergleichbar mit den ersten Spielen von Flick und können wenigstens im entferntesten mit der Saison 15/16 mithalten. Wir schießen so viele Tore wie nie zuvor und erreichen ähnlich viele Punkte wie unter Guardiola. Auch die xG und xPTS zeigen wie erfolgreich und torreich der FC Bayern (in Theorie) aktuell spielt.
Das aktuell in absoluten Zahlen viele Gegentore fallen, kann ich nicht bestreiten, dass dies aber der beste Wert für Gegentore seit Kovac (mit Ausnahme der ersten 14 Spiele von Flick) sind, sollte man hierbei nicht vergessen. Wenn man nun auf den xGA-Wert schaut, dann kann man fast davon sprechen, das seit Guardiola weg ist, nur die ersten Spiele von Ancelotti einen noch geringeren Wert hatten.
Man könnte mit den Daten also durchaus argumentieren, dass die ersten 14 Spiele in der Bundesliga unter Julian Nagelsmann bisher keinen Anlass zum meckern geben. Das wir aktuell deutlich mehr Tore kassieren, als wir ggf. sollten, würde ich teilweise auf die aktuellen Geschehnisse schieben. Für konkrete Vorschläge wie man ungeachtet der Nebenschauplätze die defensiven Situationen noch besser lösen kann, habe ich keine Antwort, aber da gibt es auch deutlich versiertere Leute hier.

Wichtig wird es mE, dass der FC Bayern unter JN diese Leistungen auch und besonders im nächsten Jahr wiederholt und in den wichtigen Spielen vielleicht noch eine Schippe rauflegt.

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@Tobizzel
Vielen Dank für die Ausarbeitung.
MEn kommt Flick in seiner ersten Saison statistisch den Werten der Saison 15/.16 von Pep sehr nahe.

Auf jeden Fall bestätigt die Übersicht das Nagelsmann einen guten Start hingelegt hat.

Sehr spannende Diskussion. Das Zitat von Nagelsmann zur Defensivleistung seines Teams aus der PK zeigt ja sehr deutlich, dass er sich sehr wohl bewusst ist, dass er gerade ein systematisches Problem an dieser Stelle hat. Nicht notwendigerweise ein systemisches, also ein Problem in dem Sinne, dass er schlechtes oder falsches System spielen lassen würde, sondern ein systematisches, also ein Problem in dem Sinne, dass seiner Mannschaft reproduzierbar immer wieder dieselben Fehler passieren.

Nagelsmann ist ja kein Hexer. Auch Nagelsmanns Fußballfelder sind immer gleich groß, auch Nagelsmanns hat immer nur 11 Spieler zur Verfügung. Egal wie er die Spieler auf dem Feld verteilt, und sei es auch noch so optimal, es wird immer Räume geben, in denen die Mannschaft geometrisch notwendig weniger Zugriff hat. Macht er das Zentrum dicht, sind die Außen frei, verteilt er die Spieler breit, produziert er Lücken in den Zwischenräumen. Auch Nagelsmanns ist also darauf angewiesen, dass seine Spieler technisch, physisch und kognitiv Willens und in der Lage sind, die systemimmanenten positionalen (statischen) Nachteile seines präferierten Systems im Spielablauf dynamisch zu kompensieren - sprich kontinuierlich individuell und kollektiv koordiniert in Relation zur Position und zum Vektor des Balls zu verschieben, um die auftretenden Lücken situativ zu schließen, Gegner rechtzeitig zu stellen, in gute Anspielsituationen zu gelangen etc.

Diese Herausforderung kann man beispielsweise auf den folgenden zwei Ebenen evaluieren:

I. Kollektiv: Der Passung von Nagelsmanns System zu den Fähigkeiten seiner Spieler. (Oder allgemeiner: Der Passung von Nagelsmanns systemischen Ideen und Prinzipien zu den Fähigkeiten seiner Spieler.)

II. Individuell: Die Fähigkeit und den Willen der Spieler, Nagelsmanns systemische Anforderungen technisch, physisch und kognitiv jederzeit effektiv umzusetzen.

Beide Sichtweisen überlappen natürlich, legen aber einen je eigenen Schwerpunkt. Legt man den Fokus auf die individuelle Ebene, landet man schnell bei Fragen von Qualität und Verfügbarkeit von Spielern. Beispielsweise @herrispezial und @918 werfen hier ja häufig die Frage auf, ob die gegenwärtigen Spieler im Kader des FC Bayern das Niveau und die Qualität haben, welche es für den FC Bayern im allgemeinen und die Anforderungen von Nagelsmann im speziellen braucht.

Legt man den Fokus hingegen auf die kollektive Ebene, ist man schnell bei Nagelsmann und der Frage, ob er momentan das bestmögliche System für die Fähigkeiten seiner Mannschaft spielen lässt oder auch, ob er im Training die richtigen Inhalte vermittelt und trainieren lässt, um seine Spieler für die bestmögliche Umsetzung seines Systems angemessen zu ertüchtigen.

Ich persönlich traue mir da kein abschließendes Urteil zu. Ich glaube, auf der individuellen Ebene gibt es eine ganze Reihe Spieler, die gerade aus unterschiedlichen Gründen Probleme haben, Nagelsmanns Anforderungen konstant und in hoher Qualität auf dem Platz umzusetzen. Einige sind sowieso vollkommen raus (zB Roca, Cuisance), andere spielen nicht in ihren besten Einsatzprofilen (zB Goretzka), wieder andere sind (noch) nicht so weit (zB Musiala, Nianzou, Sabitzer, Upamecano), und ein paar werden durch externe Faktoren wie COVID-19 zurückgeworfen (zB. Gnabry, Kimmich).

Auf der kollektiven Ebene stimmt ich immerhin zuversichtlich, dass Nagelsmann selbst einige systematische Probleme in seinem System erkannt zu haben glaubt und - den Willen und die Fähigkeiten der Spieler vorausgesetzt - sich optimistisch gibt, diese durch konzentrierte Trainingsarbeit nach und nach zu beheben. Es ist deutlich besser, es gibt reproduzierbare Fehler im System, deren Ursachen man analysieren und abstellen kann, als sich ständig wiederholende, aber in ihren Ursachen erratische individuelle Fehler, die man kaum systematisch angehen kann.

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