Wenn ich lese, welche kontroversen Meinungen bei Euch vorherrschen, was unser „Standing“ in der laufenden Saison betrifft, so bin ich auch etwas hin- und hergerissen.
Dass Nagelsmann sich wegen der Ausfälle von Davies, Goretzka, Tolisso (und der für mich immer noch völlig unerklärlichen Schwäche von Sabitzer, Upamecano und Nianzou, die nicht nur keine Fortschritte machen, sondern sich mit zunehmender Dauer gefühlt sogar eher noch verschlechtern, was natürlich auch ihren Weiterverkaufswert dramatisch reduziert…) für eine „Flucht nach vorne“ entschieden hat und grenzwertig viele Offensivspieler aufstellt, ist natürlich aus der Not geboren und unter den gegebenen Umständen vielleicht auch das Beste, was er tun kann.
Dabei kommen dann zuletzt „vogelwilde“ und nur vom Ergebnis her zuweilen nicht ganz so prickelnde Spiele heraus, die für den neutralen Zuschauer natürlich höchst unterhaltsam sind, bei denen einem aber als „harter“ FCB-Fan angesichts der ständigen Ballverluste und Gefahrensituationen vor dem eigenen Tor erschreckend oft fast das Herz stehenbleibt.
Es kommt mir derzeit so vor (siehe z.B. gegen Leverkusen und Hoffenheim), als ob wir pro Spiel 15 gute Torchancen herausspielen (was natürlich der helle Wahnsinn ist und größte Bewunderung verdient), von denen aber nur 1-2 reinmachen, was ja trotz der tollen gegnerischen Torwartleistungen eine unerklärlich miese Verwertungsquote darstellt.
Gleichzeitig schießt der Gegner IMMER - selbst Salzburg in beiden Spielen - mindestens 1 Tor und kommt zu 5 weiteren erstklassigen Chancen, was für ein Team mit unseren Ansprüchen eigentlich „much too much“ ist und ohne Neuer bzw. bei gegnerischen Stürmern von gehobener internationaler Klasse zur Katastrophe führen kann.
„Normalerweise“ müssten unsere Spiele derzeit alle so „7:5“, „6:6“, „8:6“ oder auch mal „4:5“ ausgehen; eine Situation, die ich als jahrzehntelanger Bayern-Fan SO noch unter keinem anderen Trainer jemals zuvor erlebt habe. Nichts für schwache Nerven also…
Die große Frage ist natürlich, ob Nagelsmann mit dieser Taktik (hinten ruhig öfters mal das eine oder andere Tor hinnehmen mit der Hoffnung, dass wir wegen unserer genialen Offensivpower aber vorne letztlich immer ein Tor mehr schießen als der Gegner) auch gegen höherklassige internationale Gegner in den nächsten CL-Runden durchkommt. Oder ob er, was wahrscheinlich ist, wieder etwas defensiver spielen lassen wird, wenn Goretzka und Davies wieder zur Verfügung stehen bzw. FALLS Sabitzer und Upamecano sich im Saison-Endspurt plötzlich doch noch deutlich steigern sollten.
Dass Nagelsmanns Spielweise und Aufstellung im Moment wahrscheinlich noch die RELATIV beste unter wenigen anderen Optionen (wie z.B., gestern Roca statt Gnabry in die Startelf zu nehmen), die ALLE suboptimal sind, darstellt, hatte ich oben bereits erwähnt.
Denn wenn man das peinliche Aus im DFB-Pokal einmal weglässt, gibt es doch objektiv eigentlich kaum etwas zu meckern, SOFERN man nicht so arrogant und aufgrund der letzten 9 Meisterschaften so erfolgsverwöhnt ist, dass man es für selbstverständlich hält, dass der FCB in der Bundesliga JEDEN Gegner aus dem Stadion kombiniert und immer mit 15 Punkten Vorsprung Meister wird.
Da ich noch die „alten“ Glanzzeiten der Bayern mit Matthäus, Effenberg, Augenthaler (und als Kind sogar noch die „ganz alten“ mit Beckenbauer, Müller und Maier) miterlebt habe, in denen der FCB ebenfalls meist Meister wurde, kann ich nur sagen, dass damals nach dynamischem und kampfbetontem Spiel ein Auswärts-Unentschieden beim Tabellenvierten (wie gestern Hoffenheim) durchaus als Erfolg gesehen worden wäre und auch mal ein Heim-Remis nach hochspannendem Schlagabtausch gegen den Tabellendritten (wie kürzlich Leverkusen) völlig okay gewesen wäre.
Deswegen sehe ich uns auch heute noch lange nicht in der Krise. Wobei man natürlich einschränkend erwähnen muss, dass man damals, VOR der „Dreipunkteregel“, durch zwei Unentschieden (im Vergleich zu zwei Siegen) in Folge nur ZWEI Punkte verloren hätte und nicht, wie aktuell, gleich VIER…
Ich will damit sagen: wir stehen in der BL mit MINDESTENS 4 Punkten Vorsprung an der Spitze (und dass Dortmund das heutige Spiel gegen Bielefeld und das Nachholspiel in Mainz wirklich beide gewinnt, ist in deren gegenwärtiger Form und mit NOCH mehr Spielerausfällen als bei uns auch längst noch nicht sicher) und haben in der CL bislang von 8 Spielen 7 gewonnen und ein Auswärts-Remis erzielt!!!
Wenn man in Betracht zieht, dass wir einen neuen Trainer, immer wieder empfindliche Ausfälle (Kimmich, Neuer, Goretzka, Davies sowie das 1. Rückrundenspiel, wo wir wegen Corona kaum numerische 11 Spieler zusammenbekamen) sowie zuwenige und zu schlechte Ersatzspieler haben, ist das doch bislang eine richtig gute Saison, die sich sehen lassen kann…
Am meisten Sorgen an Nagelsmanns absolutem offensiven Powerfußball mit Schlagabtausch in beide Richtungen „ohne Visier“ mit immer derselben Aufstellung macht mir, dass das enorm laufintensiv und kräftezehrend ist und unsere Stammspieler völlig ausgebrannt sein (und sich dann häufiger verletzen) könnten, wenn erst das Viertel- und danach hoffentlich Halbfinale in der CL ansteht und wir im BL-Endspurt gleichzeitig ein völlig ausgeruhtes Dortmund hinter uns haben, das gar nicht mehr international und ebenfalls nicht mehr im DFB-Pokal spielt (und auch bei Länderspielen nicht soviele Spieler abstellen muss wie wir).
Da sind wir wieder bei dem von vielen von Euch zurecht beklagten Problem mit der „schwachen Bank“, die auf eine schlechte Transferpolitik zurückzuführen ist.
D.h., unsere unverzichtbaren Stammspieler müssen praktisch weiterspielen, bis sie vor Erschöpfung umfallen, da man sie wegen unserer deutlich weniger qualitativen Ersatzspieler weder einigermaßen frühzeitig auswechseln, noch in einzelnen Spielen immer wieder mal wegrotieren kann.
Und das ist natürlich besonders tragisch in Corona-Zeiten, wo bis zu FÜNF frische Spieler eingewechselt werden dürfen, wovon z.B. ManCity ohne Qualitätsverlust fleißig Gebrauch machen wird. Und apropos Corona: wenn in den entscheidenden Phasen von CL und BL zwar Goretzka und Davies (Tolisso zähle ich gar nicht, da der sowieso nach 1-2 Spielen mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder verletzt sein wird…) wieder spielen können, aber erst noch ihre alte Form suchen, und dann gleichzeitig in einem wichtigen Spiel z.B. Kimmich, Süle und Lewandowski wegen Corona(Quarantäne) und Hernandez wegen Gelb-Sperre ausfallen würde, dann hätten wir ein Riesen-Problem.
Ich kann deshalb nur hoffen, dass unseren „IMMER spielenden Stammspielern“ nicht bald die Luft ausgeht und wir von neuen Corona-Ausfällen verschont bleiben.
Und „für die Nerven“ von uns Fans sowie die Akkus der Stammspieler wäre es sicher vernünftig, wenn wir (wie es früher aus kräfteschonenden Gründen oft üblich war) zwischendurch immer mal wieder dezidiert „ruhige“ Spiele einstreuen würden, wo wir aus einem stabilen Defensivverband heraus den Ball immer und immer wieder laufen lassen, möglichst keine gegnerischen Torchancen zulassen, zwar selber auch nur drei Torchancen herausspielen, davon aber eine verwerten und das Spiel ohne großen Kräfteverschleiß ruhig mit 1:0 nach Hause spielen.
Die Frage ist nur, ob unsere extrem offensiv und „hochtourig“ ausgerichtete Mannschaft sowas überhaupt KANN und überhaupt die dazu passenden Spieler hat, denn da habe ich gewisse Zweifel - obwohl es sicher „ökonomisch“ und vernünftig wäre.
Die FCB-Generationen der Augenthaler, Matthäus, Effenberg, Kohler, Wouters, Schweinsteiger, Kroos, Alonso usw., die KONNTEN sowas und haben es (natürlich zulasten der Attraktivität für den Zuschauer) sogar fast schon peinlich oft, ohne mit der Wimper zu zucken, durchgezogen: also z.B. gegen den BL-16. irgendwann ein einziges Elfmeter-Tor geschossen, aber ansonsten 80 Minuten lang den Ball ganz stumpf und fast ohne Zug zum Tor „kreiseln“ lassen, bis der Gegner aus Langeweile eingeschlafen ist und das Spiel endlich rum war.
So hätten die o.g. „alten“ FCB-Spieler alleine schon, um Kraft zu sparen, z.B. beim neulichen CL-Rückspiel gegen Salzburg sich mit einem 3:1 zufriedengegeben, ohne sich damit zu verausgaben, noch unbedingt 4 weitere Tore schießen zu wollen, die ja zum Weiterkommen gar nicht notwendig waren.
Spätestens seit Flick gibt es solche „traditionell italienischen“ FCB-Spiele bei uns kaum noch, es geht immer „rauf und runter, hin und her“. Für den Unterhaltungswert der Zuschauer ist der heutige Stil sicher viel geiler, für die Kräfteschonung und Verletzungsprophylaxe der Spieler aber sicher der alte, „italienische“ - den man sich aber mit Spielertypen wie Sané, Grabny, Coman, Lewandowski, Musiala, Davies udgl. eben auch kaum vorstellen kann…