Auf der übergeordneten Ebene der Spielphilosophie ist es so, dass der Ballbesitzfußball nach dem Motto „Der Angriff ist die beste Verteidigung“ agiert. Hat man selbst den Ball, kann der Gegner kein Tor schießen. Pep hat das zu seiner Zeit bei Barca mit dem Gegenpressing kombiniert, um bei Ballverlust auch schnell wieder in den Ballbesitz zu kommen.
Gerade gegen schwächere Gegner kann man dann sehr kraftschonend den Ball fern vom eigenen Tor halten. Der Gegner kommt zu kaum Torchancen und dementsprechend kommt es auch zu wenigen Gegentoren. Paradoxerweise beruhen die wenigen Gegentoren, die dann doch noch passieren, oft auf gravierenden Fehlern. Dadurch hatten viele immer den Eindruck, wir wären unter Pep so konteranfällig gewesen, da diese Gegentore besonders im Gedächtnis blieben. Tatsächlich hatte man aber so wenige Kontertore wie nie gefangen.
Diese Art von Spiel erfordert logischerweise technisch sehr versierte Spieler. Vor allem auch Verteidiger, die ungewöhnlich gut am Ball sind.
Das Gegenstück dazu ist das Pressing. Das Prinzip ist hier, den Gegner anzulaufen, wenig Zeit für Aktionen zu lassen und damit in Fehler zu zwingen. Gerade gegen Gegner, die eben keine technisch versierten Verteidiger haben, kann man so viele Umschaltsituationen kreieren. Deswegen ist das auch u.a. in der 2. Bundesliga sehr beliebt. Klopp hat das dann in Dortmund noch mit Peps Gegenpressing kombiniert und somit eine Wucht entwickelt, die kaum zu umspielen ist.
Es hat aber einen riesigen Nachteil: Diese Spielweise ist sehr kräftezerrend. Man muss permanent auf Anschlag spielen. Ist die Mannschaft nicht bei 100%, entstehen schnell Lücken im Pressingverbund. Dann ist man sehr verletzlich. Das sind dann die Momente, wenn z.B. ein Nagelsmann von der fehlenden Emotionalität redet. In der CL - in Einzelspielen - kann das gut funktionieren. Das jedes Wochenende über 34 Spieltage in der Liga zu liefern, ist langfristig nicht möglich.
Heynckes hatte beides kombiniert. Er hat die Ballbesitzgrundlagen von van Gaal übernommen und sie mit Klopps Pressing kombiniert. (Daher kam auch Klopps Vorwurf, wir würden kopieren, wie die Chinesen.) Das Besondere an der 2013er Mannschaft auf taktischer Ebene war, dass sie sowohl in der Lage war, Gegner mit Ballbesitz zu dominieren, als auch sich zurückzuziehen und zu pressen, wenn dies sinnvoll war (siehe die Spiele gegen Barca).
Klopp und Pep haben über die Jahre beide voneinander gelernt. Klopp hat gelernt, ruhige Ballbesitzphasen einzustreuen. Pep hat gelernt, dass man auch mal den Gegner spielen lassen kann.
Unter Kovac, Flick und Nagelsmann hat man sehr viel Wert auf Pressing gelegt. Zu viel. Das hat zwar perfekt für die paar Wochen im August 2020 gepasst. Aber über eine ganze Saison funktioniert dieser Ansatz bei uns nicht, da es eben nicht möglich ist, gegen jeden beliebigen Gegner 100% Emotionalität reinzulegen. Folglich kam es dann immer mehr und mehr zu Situationen, wo die Mannschaft zusammengebrochen ist und sich eine Menge Gegentore eingefangen hat.
Nach 2020 sind dann zusätzlich noch die technisch versierten Spieler gegangen. Keine Innenverteidigung mehr mit Alaba und Boateng. Kein Thiago im Mittelfeld. Seit dem ist man sehr anfällig gegen gegnerisches Pressing. Man kann nicht mehr gut unter Druck rausspielen und das Spiel ruhig halten. Man kann gleichzeitig aber auch selbst nicht immer genug Druck ausüben, um den Gegner fern zu halten.
In einem Spiel wie gegen Arsenal kann man das immer noch temporär bringen. Über 34 Spieltage fängt man sich eben immer wieder mal seltsame Niederlagen und eine Menge Tore.
Tuchel hat versucht, von diesem Pressing wegzukommen und deutlich mehr Kontrolle reinzubringen. Er hat letzteres aber zu einem guten Teil wieder aufgegeben. Vermutlich hat er realisiert, dass die individuelle Qualität auf der technischen Seite nicht ausreichend ist. Er hat dann irgendwann versucht, ein Mittelding zwischen seiner ursprünglichen Idee und der von Nagelsmann zu finden: 6 Spieler sind im Grunde nur zum Verteidigen da. Überzahl in der eigenen Hälfte, um die Schwächen der Spieler zu kompensieren und somit Kontrolle wieder zu erlangen. Die restlichen Vier versuchen vorne irgendwie ein Tor zu schießen und viel zu pressen.
In der Hinrunde stand man mit 15 Gegentoren in 17 Spielen dadurch auch gar nicht so schlecht da. 30 Gegentore in einer Saison wäre der beste Wert seit 2018 gewesen. Dieser Ansatz hat leider nur für ein paar Monate funktioniert, so lange die Offensivspieler in einer extrem guten Form waren. In der Rückrunde sind wir jetzt bei 22 Gegentoren in 13 Spielen. Auf eine Saison gerechnet wären das 57 Gegentore. Da muss man sehr lange zurückblättern, um solche Zahlen in unserer Historie zu finden.
Die Lehren daraus können simpel formuliert werden, sind aber natürlich alles andere als einfach umzusetzen: Wir brauchen wieder eine besser balancierte Spielphilosophie. Wir können kein Dauerpressen. Wir brauchen auch mal ruhige Ballbesitzphasen. Wir müssen auch in der Lage sein, ein Spiel mal nach Schema F runterzuspielen.
Gleichzeitig brauchen wir aber auch Spieler, die das umsetzen können. Wir brauchen eben wieder ein paar Leute, die den Gegner im Mittelfeld in Dreiecken schwindelig spielen können.
Manchmal ist ein konstantes 2:0 Spiel für Spiel eben doch besser als mal 5:1 zu gewinnen und dann wieder 1:1 Unentschieden zu spielen.
Bzgl. des Torwarts: Dass Neuer damals auch einen wesentlichen Beitrag zu den wenigen Gegentoren geleistet hat, ist klar. Jedoch denke ich, dass du @Ibiza hier nicht zwischen Korrelation und Kausalität unterscheidest. Es ist doch vollkommen klar, dass der Torwart gute Statistiken hat, wenn die Mannschaft generell wenige Gegentore bekommt - und umgekehrt. Um herauszufinden, welchen Anteil der Torwart daran hat, muss man schon deutlich tiefer gehen und sich anschauen, wie eine hohe Fangquote zu Stande kommt. Es kann sein, dass der Torwart krass gut gehalten kann. Es kann aber auch sein, dass die Verteidiger gar keine guten Schüsse zugelassen haben. Oder eben eine Mischung aus beidem. Man müsste sich hier vielleicht mal angucken, wie viele xGoals der Torwart pariert hat.