Sexismus, Rassismus, Antisemitismus vs. Meinungsfreiheit

Ich persönlich würde mich über einen Thread explizit zum Thema Sexismus und Objektifizierung freuen. Hier geht’s aber wohl eher in die Richtung der Diskussion, die von den Herren Hallervorden, Nuhr und Poschardt seit einiger Zeit gern betrieben wird. „Man darf aber auch gar nix mehr sagen in Deutschland…“

Das ist durchaus eine wichtige Debatte. In Teilen hat in den USA die arrogante Ignoranz des liberalen Lagers ggü. dieser Frage (u.a.) zum Wiedererstarken von Trump einerseits und rechts-reaktionären Männerbildern andererseits geführt. Die Folgen dieses Rollbäcks sind dort verheerend - nicht nur für die Emanzipation benachteiligter Gesellschaftsgruppen. Inzwischen wird daraus ein regelrechter Kulturkampf, den die Trump-Administration mit orwellscher Verdrängung führt.

Dabei kommt es zu absurder Doppelmoral: Erst predigt der Außenminister Vance den Europäern ins Gewissen der Meinungsfreiheit: JD Vance behauptete in seiner Rede, europäische demokratische Institutionen und das Recht auf freie Meinungsäußerung würden untergraben.

Auch wenn die Auseinandersetzung mit Vance vielleicht den meisten als Zeitverschwendung, zumindest aber als intellektuelle Zumutung erscheint (dachte ich auch zuerst) - JD Vance … (den ich für einen Vorreiter der evangelikalen Bigotterie und ein Musterexemplar der daraus resultierenden Doppelmoral halte!)… Vance repräsentiert mit seinen Ausführungen zu Meinungsfreiheit und Pluralismus den Zeitgeist und das Lebensgefühl jener 20-40 %, die in den USA Trump (und nicht Harris) und die in Deutschland Weidel und nicht Habeck (oder Reichinnek) gewählt haben.
Der argumentative Tenor ist eben der, den Nuhr, Hallervorden und Eckardt, aber auch Poschardt, Lanz und Precht (um nur die populärsten Wortführer zu nennen) seit geraumer Zeit betreiben: Die woke Sprachpolizei des links-liberalen Lagers verbietet uns „normalen“ Menschen das freie Denken.

Vance und Trump haben in einer ihrer ersten Maßnahmen für ein zensorisches Umdenken in den USA gesorgt:
Seit Februar werden systematisch Staats- und Regierungsdokumente, offizielle Homepages und vermutlich auch historische Dokumente auf unerwünschte Schlüsselbegriffe hin untersucht und von diesen „gesäubert“.
Eine (damals) vollständige Liste findet sich hier:

Das ist newsspeak „1984“ in Reinkultur: Wenn man die Worte dazu nicht mehr kennt, kann man irgendwann gar keinen oppositionellen Gedanken mehr denken. Das hatte ich, als ich es mit 14 las, für eine undenkbare Dystopie gehalten. Inzwischen ist das offizielle Regierungspolitik der USA.

Über 10.000 Bücher sind in einzelnen Staaten der USA auf dem Index (sprich: aus Schulen und öffentlichen Bibliotheken verbannt) gelandet - die meisten aufgrund sexueller Offenheit, Gender- oder Gay-Thematiken oder der Beschreibung diktatorischer Dystopien.

„ 1984“ steht in mehreren US-Staaten offiziell auf der Banlist. Amerikanische Schüler:innen und Student:innen in 10 Distrikten in Iowa und in einem Distrikt in Florida werden George Orwells Vision gar nicht kennen lernen können - weil es nicht mehr in ihren Bibliotheken vorkommt.

Und dasselbe politische Lager, das die Sprach- und Denkzensur des Big Brother zum offiziellen Regierungsprogramm erhoben hat, hält Europa Vorträge über Meinungsfreiheit - all in the name of Jesus Christ and God‘s own country.
That’s what I call Doppelmoral und Bigotterie.

Nicht von ungefähr kommt es, wenn die AfD sich immer wieder über die Zensur und Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch die linksliberale Medienlandschaft beklagt und damit auf den Zug aufspringt, der von den Publikumslieblingen Nuhr und Eckardt, Precht und Lanz auf die Gleise gesetzt worden ist.

Ich hab mir ein paar Stunden Nuhr und Eckardt angetan: Was mich vor allem fasziniert, ist deren Live-Publikum im Saal - es gibt eine offenbar weit verbreitete Bereitschaft zum schenkelklopfenden Gejohle, wenn’s gegen sozialdemokratische, grüne oder linke Frauen wie Heidi Reichinnek, Jette Nietzardt, Ricarda Lang oder Greta Thunberg geht. Bayernzelt goes ÖRR-Kabarett - „hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse…und der Erwin fasst der Heidi…“
Busengrapscher wie der Republikaner Trump oder der Grünen-Bundestagsabgeordnete Hecker werden’s begrüßen - und wenn man(n) erst mal recherchiert, wird auch in Deutschland die Liste verurteilter Sexual-Straftäter in der Politik immer länger - quer durch alle Parteien.

Das Gespenst der linken Klimaterroristinnen, die Deutschland mit dem Fahrrad terroristisch in den Abgrund fahren, beschäftigt den Herrn Nuhr ebenso sehr wie Donald Trump das angebliche Aggressionspotential von Greta Thunberg (der Trump letzte Woche gönnerhaft ein Anti-Aggressions-Training verordnen wollte).
Inzwischen ist das patriarchale Gedankengut witzig und kabarett-tauglich. Und es weitet sich vom Patriarchat aus in Richtung Rassismus und Xenophobie ggü. allen andersartigen, bunten, queeren, diversen Lebensweisen.
Aber das Entscheidende ist mbMn:
Es gibt ein breites Publikum dafür. Und das lässt sich nicht mehr in die Ecke der Neonazi-Dumpfbacken abschieben - das ist far too simpel, bei weitem zu billig und einfach.

Demagogischer Vorreiter und -denker ist hier der WELT-Herausgeber Ulf Poschardt. Ich habe versucht, mir zumindest einige seiner Medienauftritte zu Recherchezwecken zu Gemüte zu führen. Ich hab’s weder durch- noch ausgehalten.

Aber dennoch komme ich zu dem Schluss, dass das links-liberale Lager allein mit Hohn und Spott ggü. den Argumentationsstrategien der Neurechten nicht weiterkommt, im Gegenteil: Ich fürchte, dass ein Gutteil der neokonservativen Wiederauferstehung unter anderem davon zehrt, dass das Establishment von Kultur, Medien und Bildungsbürgertum eher links-liberal orientiert ist - vor allem, aber nicht nur in den USA.

Ich habe mich im Januar Februar mit der Frage beschäftigt, wie das passieren konnte, dass eine sympathische, hoch intelligente politisch kompetente und wirklich medial begabte Frau wie Kamala Harris gegen den sexistischen Kotzbrocken, narzisstisch gestörten Superreichen und mehrfach verurteilten Straftäter Donald Trump verlieren konnte. Wie konnte das passieren?
Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es offenbar eine politische Mehrheit jenseits der Vernunft, Aufklärung und Argumente gibt, die Präsidenten wählt und 180 Abgeordnete in den Deutschen Bundestag bringt. Und diese Mehrheit wird vom links-liberalen Lager absolut nicht verstanden, nicht ernst genommen und nicht respektiert.
Eigentlich finden wir AfD-Wähler:innen lächerlich - und auf Asocial Media wird alles dafür getan, um diese 20-40 % in den Dreck zu ziehen - mit Hohn und Spott. (Ich selbst bin absolut nicht frei davon, dabei meistens zustimmend zu schmunzeln!)

Anders gesagt: Ich fürchte, wir dürfen nicht abschalten, wenn Vance und Hegseth, Spahn und Dobrindt, Merz und Trump Reden halten. Im Gegenteil: Wir müssen genau hinhören, genau analysieren und genau auf die Finger schauen. Welches Narrativ verkaufen sie, wie begeistern sie ihre Massen, wie bringen sie Millionen dazu, sie zu wählen?
Welches Bedürfnis befriedigen sie? Und was kann die Aufklärung diesen Bedürfnissen als überzeugende Alternative anbieten?
Und daneben müssen wir unseren moralischen Hochmut, unseren intellektuellen Dünkel ggü. dem Drittel unserer Mitbürger:innen ablegen, das inzwischen Trump oder AfD wählt, weil es sich dort weniger schlecht aufgehoben, weniger ausgegrenzt fühlt.
Wir müssen aufpassen, dass unsere Art, antifaschistische, antirassistische Positionen zu vertreten, Politik zu betreiben, nicht selber ausgrenzend, persönlich verunglimpfend und somit rassistisch wird. Sonst droht uns intellektuell und moralisch, wovor Michail Bakunin im 19. Jahrhundert warnte: „ „Man setze den aufrechtesten Revolutionär auf einen Thron, und er wird zum schlimmsten Diktator.“

7 „Gefällt mir“