Ich würde die Schiedsrichter da teilweise in Schutz nehmen wollen, denn das Problem ist für mich ein grundsätzlicheres: die bisherige Herangehensweise an den VAR geht von der Illusion aus, man könnte alle „der Regelwidrigkeit verdächtigen“ Szenen im Fußball eindeutig als falsch oder richtig entscheiden.
Das ginge aber nur, wenn man wirklich jeden Kontakt zu Fuß oder Bein des Gegners und jede Ballberührung an Hand/Arm ahndet. Das wäre aber das Ende des Fußballs, wie wir ihn kennen und mögen. Denn derzeit ist eigentlich in jedem Zweikampf um den Ball immer mehr oder weniger Körperkontakt dabei inkl. gegenseitiges Bearbeiten mit Armen und Händen, was die Schiris bis zu einer gewissen Grenze (die individuell unterschiedlich ist und sich auch im Laufe eines Spiels verschieben kann) tolerieren - sinnvollerweise, denn sonst käme nie ein Spielfluss zustande. Die Entscheidung „Foul oder nicht“ ist daher sehr häufig in einer Grauzone und unterliegt damit dem Entscheidungsspielraum des Schiri. Aus diesem Dilemma, eine uneindeutige Situation irgendwie entscheiden zu müssen, helfen noch so viele Zeitlupen nicht heraus.
Beim Handspiel ist es ähnlich; die von der Regel immer noch (sinnvollerweise) vorgegebene „Absicht“ kann niemals eindeutig entschieden werden, wie genau auch immer man das zu definieren versucht. Es bleibt eine Ermessensentscheidung, und die derzeitige Praxis verführt die Schiris dazu, im Zweifel nach VAR-Hinweis noch den dümmsten Elfmeter zu geben.
Selbst beim Abseits löst sich die Pseudo-Genauigkeit bei näherem Hinsehen in Wohlgefallen auf. Man kann zwar jetzt scheinbar eindeutige Bilder mit 5 cm Knievorsprung erzeugen - aber das ist messtechnisch eigentlich unzulässig, da der genaue Zeitpunkt des Abspiels praktisch nie exakt mit dem Zeitpunkt, zu dem das Einzelbild aufgenommen wurde, übereinstimmt. Man kann leicht ausrechnen, dass da schnell 10 cm Abweichung hin oder her von dem Bild möglich sind. Was schlicht bedeutet: man kann diese Situationen auch mit VAR nicht sicher entscheiden, und sollte das dann auch unterlassen.
Dazu müsste aber voher der Platzschiri eine spontane Entscheidung getoffen haben, die dann in solchen knappen Fällen Bestand hat. Ist aber intrinsich mit VAR unmöglich, denn wenn er abpfeift und es war kein Abseits, hat er ja schon die Torchance zerstört. Also lässt er laufen, und dann müssen die Bilder herhalten - mit der Folge, dass dann alle Eventualitäten geprüft werden und plötzlich völlig belanglose Minimal-Abseitspositionen mit bewertet werden, die in live - zurecht - niemand auch nur annähernd in Betracht gezogen hätte.
Fazit: die Regeln bei Fußball sind Richtlinien, die aber nur 50% der Vorkommnisse eindeutig regeln, während der Rest immer der Einzelfall- oder besser Ermessensentscheidung des Schiedsrichters bedarf.
Der VAR kann viele dieser Szenen prinzipbedingt auch nicht wirklich in richtig oder falsch auflösen - aber wenn der Schiri sich eine Szene unter Entscheidungsdruck oft genug in Zeitlupe angesehen hat, wird er sehr häufig Elfmeterentscheidungen treffen, die er in Echtzeit nie und nimmer gegeben hätte. Somit hat die Eingriffsschwelle des VAR großen Einfluss auf das Spielergebnis. Ich habe aber bisher noch nie gehört, dass eine Spielwertung nachträglich daraufhin überprüft wurde, ob der VAR korrekt eingegriffen hat oder bei nicht eindeutigen Fehlentscheidungen dennoch einen Elfmeter getriggert hat.
Gefühlt werden derzeit mehr Spiele durch diese Pseudo-Gerechtigkeit des VAR falsch entschieden als es früher durch Live-Fehlentscheidungen der Fall war.