Schiedsrichter - Respekt, Fingerspitzengefühl & Regeln

Ein kleiner, nicht abschließender Beitrag zum Thema VAR.

Vorab, ich bin ein großer Anhänger des VAR und möchte nicht, dass er abgeschafft wird. Er funktioniert nicht gut, aber er könnte gut funktionieren und ich bin ein fortschrittsgläubiger Mensch. Vor die Wahl gestellt, ob etwas, das nicht funktioniert, aber funktionieren könnte, abgeschafft werden oder zum Funktionieren gebracht werden sollte, wäre ich in erster Näherung so gut wie immer für letzteres. So auch beim VAR.

Zur Frage der Reduktion von Fehlentscheidungen um 80 oder 90 %, @cj76: Ich habe Zahlen in dieser Größenordnung auch gelesen und glaube schon, dass sie plausibel sind, aber zu ihrer Einordnung müsste man zwingend noch zwei weitere Zahlen wissen, nämlich erstens, wie viele Entscheidungen des Schiedsrichters vor dem VAR prozentual überhaupt falsch waren (denn nur die kommen ja überhaupt dafür in Frage, um 80 oder 90 % korrigiert zu werden). Wenn etwa (hypothetisch) 90 von 100 Schiedsrichterentscheidungen ohnehin schon immer richtig waren, dann könnte der VAR selbst bei 100% Genauigkeit natürlich auch nur maximal die zehn noch übriggebliebenen falschen korrigieren und so eingeordnet wirkt der Fortschritt in Sachen Fehlerfreiheit durch den VAR dann plötzlich gar nicht mehr so groß.

Aber dabei bleibt es nicht, denn leider kann der VAR, zweitens, auch für neue, zusätzliche Fehlentscheidungen sorgen und damit theoretisch den Anteil der richtigen Entscheidungen sogar noch reduzieren, etwa weil Schiedsrichter inzwischen in schwierigen Situationen lieber abwarten und gar nicht mehr pfeifen (Nichtentscheidung als Fehlentscheidung) oder aber, im Gegenteil, je nach Typ, zu kleinteilig pfeifen, weil sie jeweils wissen, dass der VAR ihre Entscheidung anschließend schon geraderücken wird. Ein zweiter Weg für den VAR, zusätzliche Fehler zu verursachen, liegt darin, dass er durch ein falsches Eingreifen vormals eigentlich richtige Entscheidungen des Schiedsrichters in falsche umwandelt, wenn der Schiedsrichter sich von dem Eingriff beeindrucken lässt. Beide Fehlerquellen haben eine gewisse Plausibilität. Ich könnte mir gut vorstellen, dass heute nach Einführung des VAR sowohl mehr Fehlentscheidungen (auch im Sinne von korrekturwürdigen Nichtentscheidungen) des Schiedsrichters auf dem Feld getroffen werden als auch, in einem kleineren Umfang, eigentlich richtige Entscheidungen des Schiedsrichters durch ein falsches/unberechtigtes Eingreifen des VAR in falsche verwandelt werden. Ob oder wie nennenswert hoch diese Zahlen sind, weiß ich allerdings nicht.

Wie dem auch sei, die eigentlichen Probleme des VAR liegen meiner Meinung nach ohnehin nicht in der prozentualen oder auch absoluten Reduktion der Anzahl der Fehler. Was nützen 90 % weniger Fehler, wenn die letzten 10 % nicht korrigierte Fehler wirklich haarsträubende und oft sogar kritische Fehler sind; und was nützen sie, wenn der VAR sogar noch neue, zusätzliche Fehler in das System einspeist, die es ohne ihn gar nicht gegeben hätte.

Meine Hauptkritikpunkte am VAR sind folgende:

1. Mangelnde Konsistenz der Entscheidungen innerhalb eines Spiels: Es passiert zu häufig, dass zueinander ähnliche VAR-würdige Sachverhalte innerhalb eines Spiels vom Team aus Schiedsrichter(n) und dem VAR unterschiedlich bewertet werden. Fast die gleiche Situation, in der in der 20. Minute noch ein Handspiel gepfiffen wurde, führt beim zweiten Mal in der 50. schon nicht mehr dazu, oder umgekehrt. Fast das gleiche Foul, für das der VAR in der 34. Minute den Schiri noch angefunkt hat, läuft 10 Minuten später ohne Intervention ab, oder umgekehrt. Von solchen Fällen gibt es nach meinem Dafürhalten für die vermeintliche Exaktheit, die der VAR suggeriert, noch viel zu viele.

2. Mangelnde Konsistenz der Entscheidungen über mehrere Spiele hinweg: Das, was ich unter Punkt 1 für die Situation innerhalb eines Spiels beschrieben habe, passiert völlig strukturanalog genauso auch zwischen mehreren parallel laufenden Spielen und sogar spieltagsübergreifend. Was in Woche X noch als A gepfiffen wurde, wird in Woche Y als B oder C oder sogar gar nicht gepfiffen. Auch von solchen Fällen gibt es nach meinem Dafürhalten in Anbetracht dessen, was mit einem so mächtigen Tool wie dem VAR theoretisch möglich wäre, noch viel zu viele.

3. Technikgetriebene Verschlimmerung der Regeln: Seit Einführung des VAR haben sich meines Erachtens insbesondere die Handspiel-Regel und ihre Auslegung sukzessive immer weiter davon entfernt, was physiologisch aus Sicht der Motorik des Menschen und im Interesse des Fußballspiels sinnvoll wäre, und sich stattdessen dem angenähert, was aus Sicht der Technik als sinnvoll erscheint beziehungsweise was den Imperativen der Technik gehorcht. Statt etwa wie früher bei der Bewertung der Absicht primär auf die Intuition des (erfahrenen) Schiedsrichters zu setzen, arbeitet man sich heute häufig unter Vernachlässigung des Kontexts an äußerlichen Kriterien wie Ball-Hand-Kontakten und Position des Armes des straffällig gewordenen Spielers ab, nur weil (so scheint es mir) die Technik dies erlaubt. Vermeintlich objektiv feststellbare Kriterien dominieren den Entscheidungsprozess inzwischen so sehr zum Nachteil kontextsensitiver qualitativer Faktoren, dass so manche Handspielentscheidung heutzutage die Frage aufwirft, wie weit sich der Prozess des Schiedsrichtens inzwischen eigentlich vom Fußballspiel entfernt hat. Die Regeln passen sich der Technik an, anstatt dass die Technik der besseren Umsetzung der Regeln dient. Eine eindeutige Fehlentwicklung.

Punkt 3 ist anders gelagert, aber Punkte 1 und 2 sind vollständig auf Probleme mit den Regeln und der Anwendung des VAR zurückzuführen, die teilweise in sich widersprüchlich sind oder aber mindestens krass inkonsistent angewendet werden und zu völlig bizarren Situationen führen können. So sollte der VAR ursprünglich gemäß Regelwerk nur beim Vorliegen einer „klaren und offensichtlichen Fehlentscheidung“ des Schiedsrichters auf der Grundlage eines evidenten Bildes eingreifen. Bewertet der Schiedsrichter etwa ein Handspiel im Strafraum als nicht strafstoßwürdig, und war diese Entscheidung für den VAR auf Basis seiner Bilder „klar und offensichtlich“ falsch, darf er den Schiedsrichter darauf hinweisen und dieser darf dann seine Entscheidung korrigieren.

Allerdings darf der VAR seit einiger Zeit in gewissen Kontexten auch bei einem sogenannten „serious missed incident“ eingreifen, also wenn der Schiedsrichter seiner Meinung nach einen ernsthaften Vorfall übersehen hat, und darf den Schiedsrichter auf diesen hinweisen. In diesen Fällen muss vorher keine Entscheidung des Schiedsrichters vorgelegen haben, der VAR greift also von sich aus in das Geschehen ein.

Mit dieser Möglichkeit gibt es plötzlich einen ganz neuen „Confounder“ im Spiel, eine neue Quelle der Konfusion. Bisher gab es originär nur eine Fehlerquelle, den Schiedsrichter. Der VAR konnte ihn zwar korrigieren (und dabei selbst Fehler machen), aber dies geschah immer nur in Reaktion auf eine Entscheidung des Schiedsrichters. Unter der neuen Regel jedoch wird der VAR in bestimmten Situationen - und zwar gerade den besonders kritischen im Strafraum - de facto zu einem Zweitschiedsrichter, indem er von sich aus eingreifen und Entscheidungen zwar nicht final treffen, aber zumindest durch initiative Kontaktaufnahme zum Schiedsrichter einleiten kann, indem er ihn anfunkt und auf etwas seiner Meinung nach u. U. Strafwürdiges aufmerksam macht, was dieser übersehen hat.

Dies kann dann im Extremfall beispielsweise dazu führen, dass ein Spieler im Strafraum von einem Gegenspieler gleichzeitig an den Füßen und am Oberkörper bearbeitet wird, daraufhin fällt und der Schiedsrichter diesen Zweikampf aktiv als fair und regelkonform bewertet und dies durch eine Handbewegung deutlich macht, aber dann vom VAR angefunkt wird, weil dieser der Auffassung ist, er habe sich bei der Bewertung nur auf die Beinarbeit konzentriert, aber einen kritischen Stoß am Oberkörper übersehen. Daraufhin entsteht eine hochtheoretische Diskussion über vermeintliche Trefferbilder und Hebelwirkungen auf bewegte Körper unter Berücksichtigung der Gravitation und am Ende kommt vielleicht eine richtige Entscheidung zustande, aber auf jeden Fall eine, deren Ergebnis hochgradig von der individuellen Qualität der beteiligten Personen und verhältnismäßig wenig von einem definierten Bewertungsprotokoll oder sonstigen prozessual und materiell standardisierten Faktoren abhängt und die somit wenig bis kaum vorhersehbar, geschweige denn reproduzierbar ist.

Wie unschwer zu erkennen ist, birgt dieses Doppelspiel aus Schiedsrichter und VAR in hoher Abhängigkeit von ihrer jeweiligen individuellen Fähigkeit sowohl in der Entscheidungsanbahnung als auch der Entscheidungsfindung ein Einfallstor für Inkonsistenzen und Fehler aller Art und ist damit eine der wesentlichen Ursachen (zu Recht) für die allgemeine Unzufriedenheit über den VAR, weil selbst mit einem Maximum an gutem Willen eine klare und verlässliche Linie des Schiedsrichtens nicht mehr zu erkennen ist, weil sie schlicht nicht existiert. Die Menge der Entscheidungen bildet eine Menge von Singularitäten und kein homogenes, in sich konsistentes Gefüge mehr. (Was sie wahrscheinlich vorher auch schon nicht war, aber durch den mit der Einführung des VAR zu großen Teilen in der Öffentlichkeit stattfindenden Entscheidungsprozess und die durch die Verwendung vermeintlich genauer Technik entstandene Suggestion von Präzision fällt dies heutzutage ungleich stärker auf als noch in prä-VAR-Zeiten.)

Nichtsdestotrotz halte ich all diese Probleme nicht für unüberwindbare, dem Konzept VAR grundsätzlich inhärente Schwächen, die ihn damit gleichsam zwingend und für alle Zeit unrettbar kaputt machen würden. Die von mir beschriebenen Probleme sind Probleme, die prinzipiell mit besserer Ausbildung des involvierten Personals und besserer, saubererer Definition der Prozesse, Strukturen, Regeln und Pflichten der einzelnen Parteien in dem Prozess überwindbar sein sollten, nein, überwindbar sind. Das IFAB, die FIFA, die UEFA und die nationalen Fußballverbände sind zwar nicht gerade für ihre blitzartigen Entscheidungsprozesse und ihren progressiven Pragmatismus bekannt, aber man darf hoffen, dass der VAR auf seinem langen Weg der kontinuierlichen Verschlimmbesserungen irgendwann an einem Punkt angekommen sein wird, an dem die meisten Fans auf ihn angesprochen mit „gefällt mir gut, bin froh, dass es ihn gibt“ reagieren werden.

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