MSR 287: FC Hollywood: Auf tuchelfühlung mit der untrainierbaren Kabine

(Sorry, dieser Post passt hier genauso gut oder schlecht hin wie irgendwo sonst, aber er drängte sich mir auf.)

Einige der Fragen, die hier und in den anderen Threads zur Entlassung von Nagelsmann in den letzten 24 Stunden immer wieder aufgeworfen worden sind, finde ich eigentlich gar nicht so schwierig zu beantworten. Ein Versuch.

1. Grund der Entscheidung:

Wegen eines einzelnen Ergebnisses feuert niemand einen Trainer (es sei denn es ist ein 10:0 oder so, im Affekt). Wenn man alle proximaten Ursachen einer Trainerentlassung auf ihre Wurzel zurückführt, dann wird ein Trainer am Ende eigentlich immer nur aus einem Grund entlassen:

Die Verantwortlichen glauben nicht mehr daran, dass der Trainer die Mannschaft langfristig (wieder) zu dem von ihnen gewünschten Erfolg führen wird; sie sehen in der gegenwärtigen Konstellation von Trainer und Mannschaft keine positive sportliche Entwicklungsperspektive für Mannschaft und Verein mehr.

Typischerweise geht diesem Moment des Verlustes der Überzeugung in den Trainer ein längerer sportlicher Abwärtstrend oder aber wenigstens eine längere Phase voraus, in der die sportlichen Ergebnisse der Mannschaft auf dem Platz hinter den Erwartungen des Managements zurückgeblieben sind, aber dies ist keine notwendige Bedingung. So wurde zum Beispiel Markus Anfang 2019 beim 1. FC Köln auf Tabellenplatz 1 liegend und nur noch wenige Punkte vom Aufstieg in die Bundesliga entfernt mitten in einer Hochphase sportlichen Erfolgs entlassen. Eine solche Entkopplung in Form einer positiven Gegenwarts- und negativen Zukunftsperspektive ist zwar selten, kann aber vorkommen und untermauert besonders anschaulich, was in jedem Fall gilt, nämlich dass die Entscheidung des Managements, den Trainer zu entlassen, stets in die Zukunft gerichtet ist und nicht sozusagen eine Strafe für schlechte Leistungen in der Vergangenheit darstellt.

=> Der Grund der Entscheidung der Verantwortlichen für Nagelsmanns Entlassung war nicht irgendein bestimmter Umstand X in der Vergangenheit, sondern ihre Überzeugung, dass unter ihm die angestrebten sportlichen Ziele der Zukunft nicht mehr erreicht werden würden.

Nagelsmanns Entlassung ist im Wesenskern eine zukunftsgerichtete Entscheidung und keine Reaktion auf eine gegenwärtige Krise.

2. Genese der Entscheidung:

Punkt 1 legt nahe, dass obwohl am Ende des Entscheidungsprozesses über die Weiterbeschäftigung eines Trainers ein sichtbarer Sprung von 1 auf 0 steht (Trainer angestellt → Trainer entlassen), dieser konkrete Moment dennoch in aller Regel nur das sichtbare Ergebnis eines langsamen, kontinuierlichen und graduell voranschreitenden Prozesses des Vertrauensverlustes in den Köpfen der Entscheider darstellt. Denn mit Ausnahme von affekthaften Spontanentlassungen nach einem 0:10 ist es in den allermeisten Fällen nicht so, dass ein Trainer bis zum Auftreten eines bestimmten Ereignisses X noch felsenfest im Sattel sitzt und dann im Moment des Auftretens von X sein komplettes Standing bei den Bossen auf einen Schlag verliert. Zwar gibt es immer irgendwann ein logisches Ereignis X, nach dem die Entscheider wissen, dass sie ihren Trainer jetzt feuern werden, aber dieses Ereignis X ist dann nur der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, nur sukzessive Tropfen für Tropfen bis zum Rand gefüllt hat es sich schon vorher.

=> Nagelsmann ist nicht in Reaktion auf ein bestimmtes Ereignis X entlassen worden (zum Beispiel die Niederlage gegen Leverkusen), sondern seine Entlassung ist nur der sichtbare Endpunkt eines bereits seit längerem gärenden Meinungsbildungsprozesses in den Köpfen der Bayern-Verantwortlichen.

3. Zeitpunkt der Entscheidung:

Aus Punkt zwei folgt logisch, dass irgendwann ein gedanklicher Kipppunkt erreicht ist, an dem die Verantwortlichen ihr Vertrauen in einen Trainer verlieren. Wann genau dieser Kipppunkt erreicht ist, können sie nicht beeinflussen (denn bekanntlich kann man ja tun was man will, aber man kann nicht wollen was man will*), sondern irgendwann passiert es einfach und Vertrauen schlägt um in Nicht-Vertrauen. Ab diesem Moment stellt sich dann nur noch die Frage, wann der Trainer entlassen wird, aber nicht mehr ob er entlassen wird.

(*jedenfalls aus Sicht der Kompatibilisten)

Für dieses „wann“ gibt es keinen optimalen Zeitpunkt. In den seltensten Fällen wird die Entscheidung, den Trainer zu entlassen, mit einem dafür günstigen Zeitpunkt wie beispielsweise dem Ende einer Saison zusammenfallen. Es wäre natürlich äußerst praktisch, wenn die Verantwortlichen immer genau an einem 34. Spieltag das Vertrauen in ihren Trainer verlieren würden, aber diese Idealvorstellung entspricht natürlich nicht der Lebenswirklichkeit.

Also stellt sich aus Sicht der Verantwortlichen nur noch die Frage, wie viel Zeit sie zwischen ihrer Entscheidung, ihren Trainer zu entlassen, und dem eigentlichen Moment der Entlassung noch verstreichen lassen wollen. Mit jedem weiteren Tag des Aufschubs wächst eine natürliche Spannung zwischen Soll und Ist, denn man hält weiter an einem Trainer fest, von dem man nicht mehr überzeugt ist, dass er mit der Mannschaft den gewünschten sportlichen Erfolg erreichen können wird, und nimmt gleichzeitig einem neuen, dafür geeigneteren Trainer einen Tag länger die Möglichkeit, die Mannschaft in Richtung des erwünschten sportlichen Sollzustands zu führen. Das Anwachsen dieser Spannung hinzunehmen, mag im Einzelfall vernünftig sein, etwa weil man einen neuen Trainer nicht in einem schweren Spiel sofort „verbrennen“ möchte oder weil der ersehnte Wunschtrainer noch nicht gleich verfügbar ist, aber im Grunde ist ab dem Moment des Vertrauensverlustes in den aktuellen Trainer jeder weitere Tag seiner im Amt eine Krücke, um die Zeit bis zur Berufung des neuen Trainers möglichst schadensminimal zu überbrücken.

Es gibt ergo keinen optimalen Entlassungszeitpunkt. Letztlich handelt es sich bei der Entscheidung für den optimalen Ersatzzeitpunkt des alten Trainers immer nur um eine Abwägung zwischen zweitbesten Lösungen, von denen jede mit gewissen Kompromissen einhergeht. Im Fall der Bayern beispielsweise steht die Entscheidung, Tuchel noch vor dem Spiel gegen Dortmund, Freiburg und City einzusetzen und ihn damit unter Umständen im Falle einiger sofortiger Misserfolge in kardinalen Spielen schon früh zu beschädigen, in einer natürlichen Spannung zu dem Zustand, Nagelsmann noch für diese Spiele (oder sogar bis zum Ende der Saison) im Amt zu belassen und damit die wahrgenommene sportliche Fehlentwicklung, derentwegen man sich überhaupt entschieden hat, ihm zu kündigen, weiter fortzusetzen (von der Möglichkeit, den Zugriff auf Tuchel zu verlieren, einmal abgesehen).

=> Es gab keinen optimalen Ersatzzeitpunkt für Nagelsmann, nachdem die Entscheidung getroffen wurde, ihn zu entlassen. Es gab nur die Wahl zwischen mehr oder weniger schlechten Zeitpunkten. Die nun gefundene Abwägung zwischen Risiko und Chance für Tuchel durch den Zeitpunkt seiner Berufung ist eine von mehreren legitimen Kompromissmöglichkeiten.

Also noch einmal kurz zusammengefasst (TL;DR):

1. Die Entscheidung, einen Trainer zu entlassen, erfolgt immer vorwärtsgerichtet, im Hinblick auf die Sicherung zukünftiger Erfolge, und nie rückwärtsgerichget, als Reaktion auf vergangene Misserfolge.

2. Der Moment des Verlustes des Vertrauens in einen Trainer, der logisch gleichzeitig den Moment der Entscheidung für seine Entlassung markiert, erfolgt nie sprunghaft von einem Zustand völligen Vertrauens zu einem Zustand völligen Nicht-Vertrauens, sondern ist das Ergebnis eines graduellen, kontinuierlichen, meist langanhaltenden Übergangsprozesses zwischen beiden Zuständen.

3. Nachdem die Entscheidung gefallen ist, gibt es keinen optimalen Zeitpunkt für die Auswechslung eines alten durch einen neuen Trainer. Es gibt immer nur die Wahl zwischen mehr oder weniger schlechten Zeitpunkten. Im Fall des Wechsels von Nagelsmann zu Tuchel hat die Entscheidung für den Zeitpunkt gestern/heute sowohl Vor- und Nachteile, aber aus Sicht der Entscheider (und auch meiner 😉) offensichtlich wohl deutlich mehr Vor- als Nachteile.


Edited for clarity and concision

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