Fußballtrainer - Existenzialismus und Romantik

Für viele Jüngere ist Nagelsmann wohl auch schon aus Altersgründen eine Identifikationsfigur, ein exponierter Vertreter der eigenen Generation, der den Arrivierten eben mal zeigt, wo es lang geht, und die „Spielverlagerungs“-Rhetorik voll beherrscht. Verständlich, dass da die Enttäuschung groß ist, wenn es dann so abrupt und brutal endet. Für Nagelsmann wird diese Erfahrung, so bitter sie sich im Moment anfühlen mag, auf Sicht einen unschätzbaren Gewinn bedeuten, eine Chance zur Neuorientierung, zur Katharsis. Mitgerissen hat mich das, was wir von seinen Vorstellungen da auf dem Platz gesehen haben, nicht wirklich, dafür mutete es zu oft zu zerfahren, zu impromptu an. Was Tuchel uns bieten wird, kann ich nicht absehen, aber mehr Abstimmung, eine höhere technische Präzision, weniger Gerenne und mehr Pass-Spiel wäre mir sehr lieb - klare Strukturen und weg von Fummel-Fußball und Zentrumsfokus. - Und zum Abschied hier einige Zeilen Hölderlins (auch ein „Seiten-Zehner“, mindestens) für Nagelsmann:

Diß erfuhr ich. Denn nie, sterblichen Meistern gleich
Habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden,
Daß ich wüßte, mit Vorsicht
Mich des ebenen Pfads geführt.

Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern’,
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.

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Die Bürgschaft
FCB-Edition, gekürzt

Zu Nagelsmann, dem Trainer, schlich
Brazzo, den Rauswurf zur Hande;
Ihn fällte das Longboard am Rande.
„Was wolltest du mit dem Rauswurf, sprich!“
Entgegnet ihm schüchtern der Trainerich.
„Den Club vom Verlierer erretten!
Zu sprengen, die spiel’rischen Ketten.“

„Ich bin“, spricht jener, „zu gehen bereit
Und bitte nicht um mein Leben,
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich dem BVB die Schlappe bereit,
Ich lass’ dir den Dino als Sassen,
Ihn magst du, entrinn ich, entlassen."

Da lächelt der Brazzo mit bärtiger List
Und spricht nach kurzem Bedenken:
„Drei Tage will ich dir schenken.
Doch wisse! Wenn sie verstrichen, die Frist,
Und der BVB nicht geschlagen ist,
So wird er statt deiner entlassen,
Doch dir sei die Strafe erlassen.“

Und er kommt zum Freunde: „Der Brazzo gebeut,
Dass ich mit End’ des Vertrage
Bezahl für die missliche Lage,
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
Bis dem BVB ich die Schlappe bereit,
So bleib du dem Brazzo zum Pfande,
Bis ich komme, zu lösen die Bande.“

Und schweigend umarmt ihn der treue Freund
Und liefert sich aus dem Tyrannen,
Der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
Hat geschlagen mit dem BVB er den Feind,
Eilt heim mit sorgender Seele,
Damit er die Frist nicht verfehle.

Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß,
Ihn jagen der Sorge Qualen,
Schon schimmern in Abendrots Strahlen
Von ferne die Zinnen des bayerischen Hus,
Und entgegen kommt ihm die Krügerin
Des Hauses redliche Hüterin,
Sie erkennet entsetzt den Sieger:

„Zurück! Du rettest den Freund nicht mehr,
So rette das eigene Streben!
Den Rauswurf erleidet er eben.
Von Stunde zu Stunde gewartet‘ er
Mit hoffender Seele der Wiederkehr,
Ihm konnte den mutigen Glauben
Die tickende Uhr des Brazzo nicht rauben.“

„Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht
Ein Retter willkommen erscheinen,
So will ich im Rauswurf ihm einen.
Des rühme der kalte Brazzo sich nicht,
Dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht,
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue.“

Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor
Und sieht den Audi schon kommen,
Und die Menge ihn ansehen beklommen.
Im Büro schon legt man die Papiere vor,
Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
„Mich, Bayern“, ruft er, "entlasset!
Da bin ich, für den ihr ihn fasset!“

Und Erstaunen ergreifet das Volk umher,
In den Armen liegen sich beide
Und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer,
Und zum Brazzo bringt man die Wundermär,
Der fühlt ein menschliches Rühren,
Lässt ins Zimmer des Vorstands sie führen.

Und blicket sie lange verwundert an.
Drauf spricht er: „Es ist euch gelungen,
Ihr habt BVB und Herz mir bezwungen,
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn,
So nehmet auch mich zum Genossen an
Und lasst mich, gewährt mir die Bitte,
Eure Kündigung zerschneiden inmitte.“

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Kannte ich nicht. Eine Existenzialist avant la lettre.

Also, eigentlich bezieht sich ja die Katharsis auf das Publikum, nicht auf den gefallenen Helden. Aber ich weiß, was Du meinst. Man könnte es ja vielleicht auch dahingehend interpretieren, dass Nagelsmann selbst Zuschauer war :wink:

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Nur bei Aristoteles/Lessing: das heißt aber nicht, dass man den Begriff ausschließlich in einem spezifisch dramentheoretischen Kontext verwenden darf, denn Katharsis meint im Grunde die Schärfung der Sinne, die Resensibilisierung.

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Dachte ich mir schon, dass Du das nicht auf Dir sitzen lassen kannst, aber die ganze Diskussion hier spielt sich doch in einem dramatischen Kontext ab :slight_smile:

Existenzialismus? War der Freiheitsbegriff der Romantiker nicht viel …nun ja, „romantischer“ als der der Existenzialisten, also positiver, schwärmerischer und sehnsuchtsvoller, während der der prononcierten Existenzialisten eher „bleak“, hoffnungslos, ohnmächtig und fatalistisch war? (auch @severalseasons)

EDIT: Auch die latente Fortschritts- und Technikfeindlichkeit, die ich mit der Romantik verbinde, finde ich im Existenzialismus so nicht wieder, und daher dürfte der Freiheitsbegriff auch weniger einem Ideal der Ursprünglichkeit und Natur verpflichtet sein, oder?.

Ich habe das echt „befürchtet“ :slight_smile: , dass wir nun darüber diskutieren (die meisten wird das wohl nicht so interessieren). Mein Vorschlag: unterscheiden wir am besten mal den streng fachsprachlichen/epochenbezogenen vom allgemeinsprachlichen Gebrauch solcher Termini wie „Existentialist“ oder „Romantiker“ und kommen dadurch meiner Hoffnung nach weg von der „richtig/falsch“-Differenzierung. Ich würde Hölderlin weder als „Romantiker“ noch als „Existentialist“ im einschlägigen Sinne bezeichnen (sondern empfinde sein Werk und Denken ähnlich singulär-monolithisch wie das von Kleist, wenn auch stilistisch-ideell ganz anders orientiert), sehe jedoch auch, wieso man darauf kommen könnte, diese Bezeichnungen (schon auch einer Beschreibungsökonomie folgend) zu bemühen.

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Ich verstehe Deine Einwände, aber fachsprachlich enge Extensionen dieser beiden Begriffe finde ich in diesem Forum irgendwie nicht soo …
Meines Erachtens muss man zwischen Frühromantik und Spätromantik erheblich unterschieden. Alex hat Recht, die (Früh-)romantiker waren schon schwärmerischer und voller Aufbruchshoffnung, nicht zu vergessen, die Theorielastigkeit. Aber das nur nebenbei, eine Vertiefung wäre für die meisten Foristen eher langweilig, und ralph müsste uns dann tatsächlich melden :slight_smile:

@Alex: Der Existenzialismus wirkt natürlich, durch die ständige schlechte Laune von Sartre, etwas hoffnungslos. Ist es aber nicht.
Er besagt: Wir haben kein Schicksal, wir haben deswegen auch kein Schicksal, oder Aufgabe oder ähnliches zu erfüllen. Wir sind ohne jeden Grund oder Vorbedingung „in die Welt geworfen“ und haben dadurch jede Freiheit, uns selbst zu entfalten. Ohne Ironie jetzt: Als ich das erste mal mit existenzialistischen Schriften in „Berührung“ kam, fühlte ich mich wirklich befreit. Diese „Schule“ hatte echte Auswirkungen auf mein Leben.

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@jjs: Danke! Sehr interessant. Auf diesem (neudeutsch) sehr „basalen“ Niveau waren mir der Existenzialismus und Sartre wohl schon geläufig. Mit der Idee der „Geworfenheit“ passt diese Denkschule auch prima in die Epoche der Moderne, die ja spätestens mit (Achtung, prätentiöses Name-dropping) Nietzsche in der Philosophie Gott und damit mittelbar auch die Idee der transzendentalen Geborgenheit aufgegeben und den Menschen und sein individuelles Sein und Streben in den Mittelpunkt gestellt und damit sozusagen „befreit“ hat.

Albert Camus hat das mMn noch schöner und positiver ausgearbeitet. Sein „Mythos des Sisyphos“ gibt uns ganz klar das Mandat, ohne Fesseln und geistig souverän den richtigen Weg zu suchen. Ein großartiges Buch.

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„befreit“, aber auch „geworfen“ - die Geborgenheit, die vormals als sicher eingeordnete Fundamente wie Religion etc. vermittelt hatte, war nun perdu. Damit muss(te) man zurecht kommen.

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Mit ein Grund, warum ich dieses Forum so schätze: die Entlassung eines Fußballtrainers führt mühelos über in eine Diskussion über Existenzialismus und Romantik. Hoffnungslos offtopic - aber nur auf den ersten Blick :+1:

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Stimmt, Camus wollte ich erwähnen, habe mich aber nicht getraut.

Camus liegt mir übrigens auch näher als Sartre, vor allem sein Diktum des „Absurden“ gefällt mir, er hat das schön geschildert in „Der Fremde“, vor allem das sprachliche Experiment (Partizip Perfekt statt Präteritum) fand ich richtig … geil.

De Beauvoir hat einen weiteren interessanten Beitrag geleistet: Sinngemäß schreibt (schrieb?) sie, dass Freiheit auch heißt, die Konsequenzen seiner Taten und Entscheidungen zu akzeptieren.

Die Schriften aller drei (Sartre, Camus, de Beauvoir) ergeben schon eine wirklich interessante Weltsicht; selbstverständlich werden sie alle auch Nietzsche intensiv gelesen haben (ich habe jetzt keine Quellen im Moment).

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Oh Gott, jetzt lässt er sich wieder sein humanistisches Gymnasium 'raushängen. Bitte nicht!

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Ich find’s gut, siehe nachfolgende Diskussion.

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