Ich glaube, die Frage kann ich beantworten. Weil es der FC Bayern sich nicht leisten kann und will, für eine zentrale Positionen in der Mannschaft - eigentlich für jede Position mit Chance auf Erstmannschaft-Stamm - eine verhältnismäßig unsichere Wette einzugehen, die top, ja, aber eben auch hop gehen kann. Die Wette Boniface scheint nach den ersten Eindrücken der neuen Saison aufzugehen, aber die Wahrscheinlichkeit ist bei einem Spieler der Handelsklasse Kane selbstverständlich um Einiges höher. Da mein ex ante nicht wissen kann, welcher Spieler sich ex post als Erfolg herausgestellt haben wird, ist es clever, ex ante die Wahrscheinlichkeit auf eine erfolgreiche Wette ex post zu maximieren, wenn man auf eine solche angewiesen ist (und es sich finanziell erlauben kann).
Ich glaube, das tust Du. Nagelsmann hat eine ganz andere Vorstellung von Kontrolle und System als ein Trainer wie Tuchel, die chaotischer aussieht und ästhetisch vielleicht nicht so wohlgefällig, weil auch für Laien wie uns in ihren Manifestation erkennbar, ist. Aber das heißt nicht, dass Nagelsmanns System keine Strukturen und Abläufe kennte, sie sind einfach nur nicht so ohne weiteres sichtbar und auf eine Menge wiedererkennbarer Muster zu bringen, deren Erkennen dem Beobachter einen Moment der Befriedigung verschafft und über die man hinterher in einem Forum angenehm fachsimpeln kann.
Zu diesem Thema: In der aktuellen Spieltagsbesprechung des Rasenfunks sagten Tobi Escher und sein taktikaffiner Gast Deniz im Segment über die Bayern unter anderem Folgendes, ich paraphrasiere und zitiere:
Tobi: Die Bayern haben es in der ersten Halbzeit nicht gut gemacht. Ich erkenne an, dass es schwer ist gegen eine Mannschaft, die tief steht, die nachschiebt, die die Räume gut verdichtet, aber die Bayern waren sehr statisch. Sie standen zwar in einem 2-2-6 mit vielen Mann in der letzten Linie, aber ich hatte das Gefühl, dass sie dem Trainer gefallen wollten und genau in der Position spielen wollten, auf die er sie gestellt hat, aber sich darüber gar nicht mehr trauten, irgendetwas zu machen, was die gegnerische Abwehr beschäftigt. Sané war eigentlich noch der Einzige, der sich mal getraut hat, Tiefenläufe zu machen und seine Position zu verlassen, und er war auch der auffälligste Spieler mit seinen zwei Chancen.
Deniz: Ich halte Thomas Tuchel für einen sehr, sehr guten Trainer, der es wirklich versteht, wie eine Mannschaft geformt werden soll. Ich habe aber das Gefühl, dass sein Ansatz vom starren Positionsspiel, also er ist wirklich ein sehr starrer Positionsspiel-Trainer, der wirklich sehr stark auf die Prinzipien des Positionsspiels setzt, also ich habe eben schon das Beispiel Leverkusen genannt, wo die Spieler natürlich auch ihre festen Positionen haben, zum Beispiel Xhaka steht meistens auch da, wo er stehen soll und Frimpong meistens außen und Hofmann im Halbraum, aber in diesen Positionen ist es sehr flüssig, also spielen, gehen, spielen, gehen, dass die Spieler losgelöst vom Positionsspiel auch mal Dreiecke bilden, dass Hofmann plötzlich auch mal halblinks steht, weil sie sich eben dahin kombiniert haben, das hast du halt in München nicht, weil Thomas Tuchel auf starres Positionsspiel setzt. Dann hast du aber auch Spieler wie Gnabry, aber auch Leroy Sané, denen du damit ein bisschen was nimmst. Natürlich musst du eine gewisse Positionstreue haben, aber du nimmst einem Sané die Dynamik, mal was zu erzeugen, oder einem Gnabry, mal von halb links über die Halbräume ins Zentrum zu gehen oder so. Also diese Dynamik kann aus einer individuellen Situation nicht entstehen, die soll unter Tuchel mehr aus dem Positionsspiel entstehen, am besten genau so, wie wie es Tuchel vorgibt und das kostet vielleicht die Bayern diese ein, zwei Prozentpunkte Kreativität, das hat man ja in der ersten Halbzeit gesehen. Die zweite Halbzeit war ja vom Druck der Bayern sogar noch viel größer, aber das war ja auch nicht so, dass sie Gladbach jetzt mit sieben Großchancen oder so an die Wand gespielt hätten.
Tobi: Bevor wir zur zweiten Halbzeit kommen möchte ich an dieser Stelle einmal kurz einhaken, denn ich habe das auch schon in der Saisonvorschau vom Rasenfunk ja gesagt, dass meine These auch ein Stück weit ist, dass die Bayern sich jetzt so einen richtigen Strategiewechsel auf der Trainerposition geholt haben, dass das auch zum Beispiel von mir sehr stark unterschätzt wurde, also ein Flick hat sehr wenig Wert auf Positionsspiel gelegt, da ging sehr viel über Dynamik, Nagelsmann hat ein sehr dynamisches Positionsspiel, wo er verschiedene Formen von Raumbesetzung kombinieren möchte, das ist eine ganz andere Form und das hat auch für die Spieler ganz andere Konsequenzen als eben dieses doch sehr starre Positionhalten und dann in die Kombination reinkommen [das Tuchel pflegt], es dauert natürlich länger, bis das funktioniert. In der zweiten Halbzeit hat es aber schon besser funktioniert, zumindest ich habe mir hier notiert, dass die Außenverteidiger sehr häufig ins Zentrum gezogen sind, Laimer ist ja dann für rechts gekommen und hat dann immer sehr häufig im Halbraum gestanden und dann haben sie auch, wenn sie Flanken gehabt haben, eigentlich immer den zweiten Ball gewonnen und dann kam halt eben das, was du von Bayern erwartest, sie haben Gladbach am Strafraum wirklich eingeschnürt und haben sie dann auch nicht mehr raus gelassen bis zum Treffer zum 1:1 durch so einen klassischen Kimmich-Chipball auf Sané.
Sehr interessante Analyse.