Der Politik- und Gesellschafts-Thread (Teil 1)

Ich stimme @willythegreat’s Punkten im Wesentlichen zu, muss mich aber doch auch mal als Zyniker betätigen:

Impliziert doch die Fokussierung auf die (okay, bleiben wir bei dem Begriff) Lügen demokratischer Politiker, dass es in jeder Hinsicht besser wäre, die Wahrheit zu sagen.

Nun:
Wenn Politiker heutzutage die Wahrheit aussprechen (und damit meine ich auch realistische Einschätzungen zur Lage), dann passiert folgendes -
man wird abgewählt oder bei der nächsten Umfrage abgestraft.

Im Übrigen bin ich schon der Meinung, dass man über die Äußerungen vieler Demokraten unterschiedliche Ansichten haben kann, aber mit den offensichtlichen Lügen der Populisten, Autokraten etc. können sie nun wirklich nicht mithalten, das ist eine ganz andere Ebene. Da passieren ja Täter-Opfer-Umkehr, eine völlige Ignoranz für Tatsachen und so weiter. Sorry, aber da ernsthaft auf die Idee zu kommen, alle über einen Kamm zu scheren, dafür müsste man mir schon eine Gehirnwäsche verpassen.

Die politisch-rhetorische Kunst, Recht zu bekommen, hat es schon immer gegeben, und so wird es auch in Zukunft sein.

Ich habe Deine Thesen, @willythegreat, durchaus auch an mir selbst überprüft.
Zu Corona-Zeiten hatte ich nämlich allen Grund, selbst zum Schwurbler gemäß Deiner Logik zu werden. Ich hatte nämlich bezüglich mehrerer Maßnahmen eine Stinkwut und fühlte mich sehr im Recht: völlig unterschiedliche, oft völlig absurde Regeln je nach Bundesland, völlige Ignoranz bezüglich junger Lebenswelten, Großzügigkeit gegenüber großen Konzernen und Industriesparten vermeintlicher Systemrelevanz und vor allem: teilweise Vernichtung und Geringschätzung gegenüber der gesamten Kulturszene.
Und trotzdem war ich zu keiner Zeit auch nur in winziger Gefahr, mich von den ganzen Irren und Schwurblern catchen zu lassen. Ich wusste um die reale Gefahr, habe sie auch keineswegs verharmlost oder ignoriert. Und manchen Politikern werde ich auch nie wieder eine Chance geben, soviel ist klar, weil sie mir in einer solchen Sondersituation wirklich gezeigt haben, aus welchem Holz sie geschnitzt sind.

Aber nie, nie, nie wäre ich in Gefahr gewesen, eine politische Radikalisierung zu erfahren.

Nur anekdotische Evidenz?

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wenn alle demokratischen Parteien im Bundestag mitziehen würden, wäre das allerdings etwas anderes. Das ist aber natürlich nur ein Wunschtraum. Ich glaube nicht, dass wenn Union, SPD, Grüne und FDP plötzlich kein Blatt mehr vor den Mund nähmen und alle Nachteile und negativen Folgen ihrer Pläne knallhart ansprechen würden, bei der nächsten Wahl die AfD die absolute Mehrheit bekäme, sondern dass man der AfD sogar Stimmen abspenstig machen würde.
Populisten lügen zweifelsfrei dreister. Manche merken das, manche nicht. Aber: Lügen bleiben Lügen und deshalb wählen sich manche Menschen dann lieber die Lüge aus, die ihnen besser gefällt. Ist mit Ausreden ja auch nicht anders. Rede mal mit BVB-Fans, warum es mit dem Titel letzte Saison nicht klappte. Du wirst mMn öfter hören: „weil uns der Schiri in Bochum einen klaren Elfer verwehrt hat.“ als „weil unsere Hinrunde vor der WM zu schlecht war.“

Geht mir auch so. Und in jedem Bundesland trifft das auch noch immer auf die Mehrheit der Wahlberechtigten zu. Ich kann aber auch verstehen, wenn jemand „abrutscht“. Deine Bedenken gegenüber manchen Maßnahmen bei Corona waren mMn auch damals schon absolut nachvollziehbar und gerechtfertigt. Das öffentliche Äußern wäre dennoch an vielen Stellen nicht gut angekommen. Da ist es nicht so verwunderlich wenn manche Menschen sich in irgendwelchen Gruppen wiederfinden, in denen sie Zustimmung für solche an sich vernünftigen Ansichten finden. Von dort ist halt manchmal der Weg in den Abgrund nur mehr klein.
Dazu eine Metapher: Die Politik sorgt mitunter dafür, dass manche Menschen sich immer näher auf einen Abgrund zu bewegen, in dem die Populisten lauern. Wenn man am Rande des Abgrundes steht, ist die Gefahr eines Absturzes zweifelsfrei viel größer, als wie wenn man sich diesem Abgrund gar nicht nähern müsste. Nicht jeder widersteht der Versuchung, wenn er in den Abgrund blickt.

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In der Tat. Sehr weise. Zumal, wie wir wissen, der Abgrund zunehmend auch in dich selbst hineinblickt… :wink:

Übrigens war das damals genau so, wie Du es beschreibst:
Ich hatte teilweise ziemlichen Ärger, weil ich mich durchaus „öffentlich“ geäußert hab, und fand mich plötzlich in der Gesellschaft seltsamer Gestalten, zumindest scheinbar. Das war mühselig, weil ich mich von zwei Seiten abgrenzen wollte und musste. Ich kann mir schon vorstellen, dass das für manche dann ein wenig einsam wird und man sich lieber in eine „größere“ Gruppe begibt, wo man auch mal Recht bekommt…

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Dieses Bild ist anschaulich, weist aber für meinen Geschmack den Demokratieverächtern und -vernichtern eine deutlich zu passive, praktisch nur „abstaubende“ Rolle zu. Beide verlinkte Artikel zeichnen ein anderes Bild.

Merkels verhasstes „Wir schaffen das“, aus der aktuellen Situation im August 2015 heraus gesprochen, kam ca. 1 1/2 Jahre nach Beginn der allwöchentlichen Pegidademonstrationen. Die Aversion und der Hass waren also schon viel früher da. Man kann ihr demzufolge m.E. nur bedingt die Verantwortung für das dann Folgende zuschreiben.

Ebenso bei Corona: am Tag des ersten Lockdowns, dem 17. März 2020, weigerte sich eine Bekannte, in den letzten Stunden geöffneter Gastronomie (was man damals noch nicht wusste), ihren Namen ins für die Kontaktnachverfolgung gedachte Formular einzutragen: das führe alles in die Diktatur und mindestens zu Zwangsimpfungen für uns alle. Solche Stimmen gab es damals schon reichlich. Die brauchten keinen einzigen später tatsächlich begangenen Fehler oder dergleichen, weil sie es ohnehin schon vom ersten Tag an wussten. Und sie führen, wie ich aus eigenem Erleben bestätigen kann, bis heute bittere Klage über all das Widrige.

Enttäuschtes Vertrauen, enttäuschte Erwartungen? Von wegen …

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Nietzsche zum Feierabend. :wink:

Die seltsamen Gestalten von denen du sprichst, erscheinen bestimmt manch anderem Mitbürger nicht so seltsam wie dir und diese fühlen sich in ihrer Gesellschaft dann nicht so unwohl, zumal wie du ja richtig sagst, das Gefühl, sich in einer Gruppe aufgehoben zu fühlen, sehr anziehend wirken kann.

Bezüglich einiger Maßnahmen und einiger Taten und Verhaltensweisen von manchen Politikern während Corona verspüre ich noch heute nichts als tiefste Verachtung, vor allem auch wegen ihrer arroganten und herablassenden Art, mit der sie Maßnahmen in anderen Ländern, abkanzelten und sich als die „Übermenschen“ feiern ließen. (noch einmal Nietzsche)

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Ich glaube allerdings nicht, dass die Corona-Leugner und die Pegida- /AfD- Fraktion so viel Zulauf bekommen hätten, wenn nicht die besagten Fehler in der Politik passiert wären.
Das hatte eine mMn ziemlich verstärkende Wirkung.
Hätte man es geschafft, die Leute, die pauschal nicht dagegen waren, dass Flüchtlinge nach Deutschland kommen bzw. dass es Einschränkungen wegen Corona gibt, die aber bzgl. der Handhabung Probleme hatten, alle „einzufangen“, wäre es für die Demokratieverächter deutlich schwerer geworden, so viele „abzustauben“.
Es wären trotzdem noch zu viele Anhänger, aber eben mMn bedeutend weniger. Auslöschen wird man solches Gedankengut nie. Man kann es aber den Leuten, die so denken, schwerer machen, andere mit ihren Ideen zu infizieren.

Es sind eben zwei verschiedene Blickwinkel auf ein und dieselbe, von uns weitgehend identisch beurteilte Situation:

Dich interessieren mehr die Fehler der Demokraten. Ohne diese hätten es die Feinde der Demokratie deutlich schwerer, das stimmt.

Mich interessieren eher die perfiden Methoden der Gegner. Fehler werden immer gemacht. Diese fielen weit weniger ins Gewicht, wenn nicht permanent mit Fleiß an einem Regime Change von rechts gearbeitet würde.

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Mich interessieren beide Aspekte in etwa gleich und deshalb wollte ich die beiden verlinkten Artikel noch um eine zusätzliche Sichtweise ergänzen.

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Sorry, das kann ich nicht unkommentiert stehen lassen. Viele der von dir genannten „Kritiker“ haben ja nicht nur den Mehrwert einer Impfung in Frage gestellt, sondern alle Maßnahmen und haben gleichzeitig noch vielen Maßnahmen einen negativen gesundheitlichen Effekt unterstellt (z.B. Masken tragen).
Wenn sich von 10 von mir aufgestellten Thesen eine nachträglich als teilweise richtig ausstellt, weil sich die Natur entschieden hat, einen Virus stärker mutieren zu lassen als der Stand der Wissenschaft es angenommen hat, ist das kein Grund mich als verlässlichen Experte für irgendwas zu betrachten. Getreu dem Motto, ein blindes Huhn…

Der Ton macht die Musik. Und nicht jeder kann überhaupt ein Instrument spielen. Und wenn Bäcker, Musiker und Lehrer meinen, sie wissen mehr über Coronaviren als ein Virologe. Wir können uns zwar 80 Mio Bundestrain erlauben, aber bei Leben und Tod sehe ich das anders-

Der kluge Kopf, der den Spiegel Artikel geschrieben hat, widerspricht dir hier zu 100%. Wie kommst zu der Einschätzung?
Auch die Wissenschaft geht davon aus, dass Menschen extrem schlecht sind, sich langfristigen Gefahren richtig zu stellen. Ungesundes Essen, Rauchen, Klimakrise…

Ich habe große Zweifel, dass eine derartige Rhetorik der Herausforderungen an die Bevölkerung gerecht werden. Du vergleichst hier den Höhepunkt des kalten Krieges in den USA bzw. den zweiten Weltkrieg mit der Aufnahme von Flüchtlingen.

Es wäre schön, wenn du recht hättest aber wie kommst du zu der Einschätzung?

Welche Politiker sind das genau? Ist dir eigentlich bewusst, dass es Überschneidungen zu deinen Texten im Spiegel Artikel gibt?
Ich zitiere in der Folge Aussagen bzw. Verhaltensweisen, die laut dem Spiegel Artikel von Populisten verwendet werden:

Die Regierung, die angeblich das Volk verrät. Die Eliten, die angeblich das Volk vergessen.

Die modernen Propagandisten des Autoritarismus dagegen führen Probleme der Gegenwart auf vergangene Krisen zurück und fügen beides ein in ihre Großerzählung.

Sie nutzen Begriffe über Jahre immer wieder (»Merkels Facharbeiter« oder »Merkels Goldstücke« für Migrantinnen und Migranten). Sie behaupten, Übel von heute seien eine Folge von Entscheidungen in früheren Krisen.

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Gernot Mörig, Initiator des Potsdamer Remigrations-Treffens, sein Vater, frühes NSDAP-Mitglied, seine Kinder, einst in völkischen Jugendorganisationen aktiv, heute in der rechten Szene verpartnert und in einem Fall direkt von Alice Weidel finanziert: hervorragende Protagonisten einer elitären rechten Szene, die langfristig und strategisch am Systemwechsel arbeitet. Er selbst charmanter, beruflich erfolgreicher und vermögender Netzwerker und Geldbeschaffer mit besten Kontakten zu AfD, Werteunion und BSW.

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Genau dies ist gerade Gegenstand eines Prozesses, den Christian Drosten gegen mehrere Personen führt, die ihn in Gegenwart seines damals 4jährigen Sohnes mehrfach massiv als „Massenmörder“, „Transhumanisten“ etc. angegriffen haben und ihm zudem vorwerfen, seine akademischen Titel rechtswidrig erworben zu haben. Ob er sich damit einen Gefallen tut? Einer der Verteidiger nimmt ihn stundenlang ins Kreuzverhör, der Richter lässt diesen gewähren und kann sich eine Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit vorstellen.

Ganz hervorragend auf den Punkt gebracht, danke :ok_hand:t4:

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Aber Kinderbuchautoren wissen was zur Wirtschaft und dem Klima? Ungelernte wissen was zur Außenpolitik?

Wieviele Bundestrainer leisten wir uns eigentlich in der Regierung? Kein Wort der Kritik von dir.

Ist ja schön und gut, dass du bei nem Husten meinst es ginge um Leben und Tod, aber dann erlaube anderen doch das zb bei Atombomben so zu sehen.

Sensationell, was Du hier alles zusammen- und durcheinanderwirfst. Da Ordnung hineinbringen? Ich strecke die Waffen. Aber unterhaltsam ist es irgendwie schon. @Andy: erteilst Du die erbetene Erlaubnis? :wink:

Ich wüsste nicht, wer ich bin hier irgend jemand etwas zu erlauben? :thinking:

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Hier wird überhaupts nichts durcheinandergeworfen.

Das Argument ist: Wer keine Ahnung vom Thema hat, Fresse halten. Da geht ich auch absolut mit. Einen Drosten als Privatperson auf dem Camping-Platz angehen gehört sich nicht.

Als unwissender Autor Wirtschaftsminister werden genausowenig.

Wenn du das Argument entkräften willst, dann richte dich doch bitte an Andy, der es in den Raum gestellt hat.

Habeck war bereits erfahrener und in einer schwierigen Koalition allseits anerkannter Minister. Das ist also eine unsinnige Polemik.

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Da musst du mich missverstanden haben. Jeder soll seine Meinung frei äußern dürfen. Aber ich persönlich möchte bei Entscheidungen, die mich betreffen, gerne die Meinung von Fachexperten höher bewertet wissen, als die von Laien.

Es kann nicht der Anspruch an Politiker sein, dass diese allwissend sind. Gleichzeitig halte ich nichts von einer Technokratie.

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Das wird zwar gerne und häufig gesagt, ist aber in dieser Absolutheit nicht richtig. Selbstverständlich darf in einer demokratischen Gesellschaft sich zu allem äußern, wen es danach verlangt. Die Frage ist eher, mit welchem Anspruch man es tut. Auch Expertenaussagen dürfen angezweifelt und kritisiert werden. Es kommt auf den Ton an und auf die eigene Bereitschaft, Argumente auf sich wirken zu lassen und den eigenen Durchblick möglichst realistisch einzuschätzen.

Gerade mit Blick auf Corona wird gerne vergessen, dass viele Aspekte der Erkrankung zunächst unbekannt waren. Und dass die Politik keineswegs alle aus der Wissenschaft kommenden Vorschläge realisiert hat.

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Das wurde doch auch so gemacht. Die hauptsächliche Kritik war, dass die Meinung von Fachexperten die widersprüchlich zu der von den großen Namen wie Drosten war, weitgehend ignoriert wurden.

Deshalb entlädt sich der Frust dann ja auch gegen einen wie Drosten und nicht Kekule. Finde die Pöbeleien im Privatleben vor dem eigenen Kind ja schon übergriffig, aber genauso waren es die Maßnahmen, für die er mit seinem Namen stand.