Zuerst war dies ein Post, von welchem ich nicht so recht wusste, in welchen Thread er gehören könnte:
- Frauen-Fußball in den Zeiten von Social Media
- Objektifizierung von Frauen im Sport
- oder: Wie der Kicker mit einem komplett (bei der NZZ) abgeschriebenen Artikel Klicks generiert und dabei von der Misogynie im Asocial Media Bereich profitiert
Das Thema ist relativ einfach umrissen: Alisha Lehmann ist zugleich Fußballerin der Schweizer Nati und eine der erfolgreichsten Social Media Influenzerinnen im Sport - „mit 17 Mio. Follower:innen erreichen ihre Posts mehr Menschen als die Schweizer Männer Roger Federer, Yann Sommer und Granit Xhaka zusammen“ (Zitat NZZ).
Nun ist unklar, ob Pia Sunthage sie in den EM-Kader beruft - ihre Leistungen waren zuletzt gemischt.
Die NZZ hat Ende Mai (vor knapp 3 Wochen) aus der Frage einen Artikel gestrickt, der zumindest in meinen Augen mit einigen bedenkenswerten Hintergrund-Aspekten aufwartet und das Thema im Text relativ unparteiisch beleuchtet.
Aber der Aufmacher (den der Kicker heute covert) ist meiner Meinung nach kritisch:
Kann sich die Schweiz, kann sich der Frauenfußball eine Nicht-Nominierung Lehmanns leisten? Oder muss Lehmann einen Kaderplatz bekommen, weil sie Social Media- berühmt ist?
Die beiden Autorinnen der NZZ kommen (entgegen der eher reißerischen Überschrift ihrer Zeitung) zu dem unspektakulären Fazit:
Blockzitat NZZ
Kann man denn Alisha Lehmann wirklich zu Hause lassen? Muss man ihre enorme Reichweite an der Heim-EM nicht nutzen, auch wenn sich andere Stürmerinnen mehr aufdrängen? Wer die Geschichte des Frauenfussballs kennt, weiss, dass dieser permanent um Anerkennung kämpft. Darum, für die Leistung auf dem Rasen ernst genommen zu werden. Vor diesem Hintergrund kann der Entscheid des Verbandes kein anderer als ein rein sportlicher sein.
Damit könnte die Geschichte zuende sein. Allerdings erweist schon die Fragestellung dem Frauenfußball einen Bärendienst. So sehr kämpfen die Spielerinnen darum, als Sportlerinnen und nicht als optische Projektionsflächen ernstgenommen zu werden. Wenn eine Frau darüber hinaus neben dem Fußball geschäftlich erfolgreich ist, hat das mit ihrem Sport nichts zu tun.
Noch vor wenigen Jahren konnten Fußballerinnen wie Gwinn oder Lehmann von ihrem Fußball-Gehalt nicht vollständig leben. Berufliche Einkommensquellen außerhalb und nach dem Fußball-Leben sind für Frauen (mangels Equal Pay) noch immer wesentlich wichtiger als für ihre männlichen Star-Kollegen. Und der NZZ-Artikel formuliert zurecht die Frage:
Blockzitat NZZ
Am Ende geht es nicht zuletzt darum bei Lehmann: dass ihre Aktivitäten in den Augen ihrer Kritiker als nicht besonders schlau gelten. So, als gäbe es eine anständige Art, Geld zu verdienen, und eine schlechte. Diese unterschiedliche Beurteilung sieht auch Wälti (Kapitänin Schweizer N11, Anm. von @Gratschifter) als Problem, wie sie kürzlich in der SRF-Sendung «Gredig direkt» sagte: «Bei mir sagt niemand etwas, weil ich neben dem Fussball Dinge tue, die vielleicht mehr angesehen sind.» (Hervorhebung von @Gratschifter)
Ich wüsste nicht, dass Ronaldos Werbeeinnahmen aus seinen über 65 Millionen Social Media Followern ihm jemals zum Vorwurf gemacht worden wären - im Gegenteil: CR7 gilt als cleverer Geschäftsmann, der aus seinem sportlichen Erfolg halt auch zusätzlichen finanziellen Gewinn zieht. Bei Alisha Lehmann ist der geschäftliche Erfolg im Social Media Bereich anstößig oder zumindest fragwürdig. CR7 ist hingegen ein gewiefter und erfolgreicher GeschäftsMann.
Aber die Geschichte ist hier noch nicht zuende.
Heute sattelt der KICKER sein Pferd und springt journalistisch auf den Zug auf, den andere aufs Gleis gesetzt haben.
Der KICKER hingegen belässt es beim Abschreiben der populärsten Passagen des NZZ-Artikels, fügt Aussagen einer Medienwissenschaftlerin (die ehemalige Kicker-Redakteurin ist) sowie eine Prise aus Giulia Gwinns Buch hinzu.
Zweimal umrühren - und fertig ist der KICKER-Aufmacher, der auf Instagram groß vermarktet wird
https://www.instagram.com/p/DLAg_lttbaY/?img_index=6&igsh=eWRrMHc1cDRiMms2
Mit Alisha Lehmann selbst gesprochen haben weder NZZ noch KICKER.
Jetzt könnte man argumentieren, dass Lehmann eine Person von öffentlichem Interesse ist - sich selbst bewusst im Rampenlicht inszeniert, und sich daher nicht beschweren darf, wenn sie anders bewertet (und also auch journalistisch ausgeschlachtet) wird als etwa ihre Nati-Kolleginnen Wälti oder Peng.
Ich habe mir die Mühe gemacht, die Kommentare auszuwerten, die der KICKER-Post bis gestern Abend auf Instagram nach sich gezogen hat.
Wenn man sich das genauer anschaut, versteht man(n) vielleicht besser, was ich an dem KICKER-Artikel (außer dem Plagiats-Journalismus) bedenklich finde:
242 Kommentare zum Kicker-Post waren es bis zum Abend.
Ich hab alle gelesen und nach Kategorien sortiert - dass ich nur auf 192 ausgewertete Kommentare komme, kann ich nicht erklären. Aber auch die 192, die ich gefunden habe, stellen einen aussagekräftigen Querschnitt über die Wirkung des KICKER-Posts dar.
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Insgesamt sind 163 Kommentare Beleidigungen von Alisha Lehmann der einen oder anderen Art - das sind rund 85 Prozent.
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Lediglich 19 beleidigen Lehmann nicht - das sind 10%.
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10 Kommentare sind allgemeines oder inhaltsloses BlaBla ohne Bezug zum Thema oder irgendwas - und die fehlenden 5%.
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Lediglich 13 Kommentare (von den 19 nicht frauenfeindlichen Posts) gehen inhaltlich halbwegs auf die Frage des Artikels ein „Kann die Schweiz, der Frauenfußball es sich leisten, Lehmann nicht zu nominieren?“ - das sind 7%.
Im einzelnen:
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15 Kommentare, die Alisha Lehmann optisch abwerten und beleidigen
=> „Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, aber meins ist sie nicht“ ist der harmloseste. -
62 Kommentare, die Alisha Lehmann aufgrund ihrer Schminke beleidigen
=> „hinter den 10kg Schminke muss doch irgendwo eine Frau stecken“ - auch das habe ich wesentlich schlimmer gelesen. -
12 Kommentare, die auf ihre sexuelle Benutzbarkeit abzielen
=> Hier verbieten sich Zitate! -
6 Kommentare, die gegen Frauenversteher pöbeln
=> „kriech noch tiefer, Du Lurch“
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42 Kommentare, die Alisha Lehmann s sportliche Leistung WEGEN ihres Aussehens und ihrer Popularität in Frage stellen
=> „Plastik und Bekanntheitsgrad schießt keine Tore“ - noch die nette Variante -
11 Kommentare, die Alisha Lehmann in die Pornoindustrie wünschen
=> „Als Alternative sollte sie OF machen - Hätte sie mehr davon“ - und viel schlimmer! -
15 Kommentare, die Alisha Lehmann allgemein und ohne Begründung beleidigen
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6 allgemein frauenfeindliche Kommentare gegen Frauen im Sport/Fußball
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10 mal schlichtes BlaBla und Gepöbel ohne jeden Bezug zum Thema
Dagegen stehen 19 nicht misogyne Kommentare, die sich wie folgt verteilen:
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3 Kommentare, die dem Sexismus der Kommentare widersprechen (und von denen ist einer auch noch von mir - meine Empörung war übrigens der Ausgangspunkt für diesen Artikel und meine Recherche)
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1 Kommentar verteidigt Alisha Lehmanns Social Media Erfolg
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1 Kommentar kritisiert den Instagram-Hype um Lehmann, ohne sie persönlich zu beleidigen
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3 Kommentare kritisieren den KICKER für seine oberflächliche Berichterstattung und stellen die Frage, weshalb Frauen aufgrund ihres Aussehens sportlich hinterfragt werden, Männer hingegen nicht.
=> „finde euren Artikel ziemlich geschmacklos. Im Herrenfussball spielt das sich auch keine Rolle. Warum dann plötzlich bei den Damen drauf pochen? Oder wann kommt der Post zu irgendwelchen Oberkörperfreien Männern?“
Darauf reagiert der KICKER:
„Uns fällt jetzt kein männlicher Spieler ein, bei dem die Diskussion bei einer EM ähnlich geführt wurde.“ -
7 Kommentare plädieren für eine Aufstellung nach Leistung und nicht nach Bekanntheit (ohne zu beleidigen)
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2 Kommentare plädieren für eine Nati-Berufung Lehmanns aufgrund ihrer Popularität - das ist ein einziges Prozent, das auf die Frage des KICKER-Posts eingeht.
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2 Kommentare fordern eine Nati-Berufung Lehmanns ohne Bezug zu ihrer Popularität - auch das nur ein einziges Prozent, das auf die Frage des KICKER-Posts eingeht.
Lediglich 5% der Kommentare beziehen sich inhaltlich auf die (vermeintliche) Frage von KICKER und NZZ.
85 Prozent frauenfeindliche, misogyne Kommentare, von denen darüberhinaus nur ein Bruchteil etwas mit Sport zu tun hat - das ist der Rasen, den der KICKER bespielt. Das Medium sei nicht verantwortlich für das Mindset seiner Rezipient:innen? Das sehe ich grundlegend anders!
„Sex sells“ ist BILD-Politik, im Frauenfußball lassen sich sogar „Sex’n Sport sells“ verbinden. Trolling generiert Klicks - und ein reißerischer Aufmacher tut sein Übriges. Frauenfeindlichkeit ist Business - auch im Sportjournalismus.