Nachdem ich gestern mal nachgesehen habe, ob und wie sich das Thema noch weiter entwickelt hat, habe ich deine Antwort gelesen @Alex . Nachdem du nicht ad hominem argumentiert und soweit ich sehe auch keinen dieser „du dummer Aluhut“-Kommentare geliked hast, werde ich dir darauf noch antworten. Also:
Damit sage ich nicht, dass solche exogenen Faktoren die Unterschiede in der Übersterblichkeit zwischen verschiedenen Ländern vollständig erklären, vielleicht erklären sie sie nicht einmal maßgeblich, aber ohne sie grundsätzlich berücksichtigt zu haben, ist gar keine richtige Erklärung möglich. Mit dem Präventionsparadoxon hat diese Argumentation übrigens nichts zu tun. Wie kommst Du darauf?
Was du schreibst, ist ja gerade das, was ich mit Präventionsparadoxon meine: Man stellt die Behauptung auf, dass aufgrund von Faktor A,B,C… eine Katastrophe droht, ergreift dann deswegen Maßnahmen, und schließt dann aus dem Ausbleiben der Katastrophe darauf, dass diese gerechtfertigt waren. Eine solche Argumentation wird niemals falsifizierbar sein und ist somit ultimativ sinnlos. Wie ich an anderer Stelle bereits geschrieben hatte, würde ich ein solches Vorgehen ausnahmsweise einmalig für einige Wochen akzeptieren, wenn z. B. die Belegung der Intensivstationen seit Wochen flächendeckend nach oben zeigt und es kein Anzeichen für eine Entspannung gibt. Dann ist für mich aber selbstredend, dass sowas eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Dass Maßnahmen wie „der 90-Jährige geimpfte Rentner darf ins Konzert, der ungeimpfte 18-Jährige aber nicht in die Disco“ jeder Logik entbehren, sollte in jedem Fall klar sein.
Aber Deine Argumente mit Verweis auf Schweden suggerieren mir außerdem – und ich hoffe, ich tue Dir damit nicht unrecht, Stichwort Fallzahlen „nicht sinnvoll“, ansonsten entschuldige bitte, dann ziehe ich das Folgende natürlich zurück –, dass Du bereits ziemlich früh im Jahr 2020 sicher wusstest, dass der schwedische Weg im Umgang mit COVID-19 der (einzig) richtige sein würde, und dass also von vornherein offensichtlich war, dass Deutschland massive Fehler im Umgang mit der Pandemie machte, wie man im Kontrast mit dem Fall Schweden leicht sehen konnte, wenn man nur hingucken wollte.
Wieder mal ein gutes Beispiel, was man aus einem Zitat alles machen kann. Meine vollständige Aussage war wörtlich „nur auf die vermeintliche Reduzierung der Fallzahlen einer einzigen Krankheit als Erfolgsindikator von Maßnahmen abzuzielen, ist nicht sinnvoll“ und ist selbstredend korrekt (stell dir vor, du sparst durch eine Maßnahme 1000 € im Sektor A ein, verursachst dafür aber Mehrkosten von 2000 € im Sektor B). Bzgl. Schweden: Der Blick dorthin hat in der Tat ziemlich früh gezeigt, dass man auch ohne Holzhammer potentiell sehr gut fahren konnte. Das Grundgesetz steht unter dem - aus meiner Sicht prinzipiell sehr sinnvollen - Grundsatz der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, nicht der „sicherheitsorientierten demokratischen Grundordnung“. Und daran muss sich staatliches Handeln dann eben auch orientieren. Man hätte also sagen müssen „jetzt versuchen wir es mal so wie in Schweden“. Wäre dann wirklich eine akute Bedrohungslage eingetreten, hätte man wie gesagt von mir aus schon temporäre Maßnahmen setzen können, aber einfach mal zwei Jahre lang mit dem Holzhammer agieren - sorry, aber nein.
Wenn Du von Dir aufrichtig behaupten kannst, dass Du Anfang 2020 bereits so schlau warst, darfst Du heute Deutschlands Corona-Politik unter Verweis auf das, was Schweden besser gemacht hat, als absehbar falsch kritisieren, sonst wäre das intellektuell ziemlich lame
Es wird dich überraschen, aber die ersten Wochen war ich durchaus nicht gegen Vorsichtsmaßnahmen. Mir ist dann aber relativ schnell klar geworden, dass das, was ich mit meinen eigenen Augen sehe (ja, darauf gebe ich noch etwas), nicht dem entspricht, was mir permanent vermittelt wird, und dass das Leben in Schweden ganz normal verläuft.
…denn warum hast Du nicht Frankreich genommen? Oder Spanien? Oder Portugal? Oder Bulgarien oder Österreich oder Griechenland oder Lettland oder das Vereinigte Königreich oder oder oder? Samt und sonders Länder, die in der Übersterblichkeit von 2020 bis heute deutlich schlechter als Deutschland dastehen.
Ja, diese Länder haben das Ganze ähnlich gehandhabt wie wir und haben schlechter abgeschnitten. Spricht nicht unbedingt für die Wirksamkeit von Maßnahmen.
Um es mal salopp zu sagen: Wegen des Risikos, einmal in zehn oder 15 Jahren (o. Ä.) wegen einer Grippewelle für drei Monate regional überfüllte Krankenhäuser zu erfahren, erweitert man nicht grundsätzlich seine Krankenhauskapazitäten oder verordnet breitflächige Eindämmungsmaßnahmen wie Home-Office oder Maskenpflicht. Das wäre eine völlig ineffiziente Allokation von Mitteln bzw. vollkommen unverhältnismäßig in der Schwere der Antwort.
Diese Aussage widerspricht aber dem Rechtfertigungsleitsatz der Maßnahmenbefürworter, dass jedes Leben um jeden Preis gerettet werden muss. In dem Youtube-Video zur Grippewelle 2018, das ich verlinkt hatte, wurde explizit ein Fall erwähnt, in dem jemand kein Intensivbett mehr bekam und im Krankenwagen gestorben ist. Hat damals niemanden interessiert.
Aber COVID-19 war als Krankheit vollkommen neu. Niemand konnte a priori vernünftig abschätzen, wie schwer sie die Bevölkerung treffen würde, d. h., welchen Anteil der (infizierten) Bevölkerung sie ins Bett, ins Krankenhaus oder ins Grab bringen würde. Dass man hier als rationaler Agent, der ein globales Schadensminimum anstrebt, im Echtzeit-Umgang mit der Krankheit und in der Applikation der Maßnahmen in Reaktion darauf lieber auf der Seite der Vorsicht irrt, und das erst recht, wenn die Krankenhäuser beginnen, sich schnell zu füllen, finde ich vollkommen nachvollziehbar und würde auch nie etwas anderes erwarten.
„Vollkommen neu“ trifft ja nur auf die ersten Wochen zu. Man hat es dann aber konsequent unterlassen, einen Kurswechsel a la Schweden auch nur in Betracht zu ziehen („Öffnungsdiskussionsorgien“ etc.). Das Präventionsparadoxon ist wie gesagt ein nicht falsifizierbares Argument und allenfalls in einer akuten Notlage für einige Wochen als Begründung akzeptabel, aber nicht als generelles Handlungsprinzip. Bzgl. Füllung der Krankenhäuser: Paradoxerweise mussten viele Krankenhäuser zur C-Zeit in den Sommermonaten Kurzarbeit anmelden. Beleg dazu (nachdem es bei anderen Usern schon vorkam, dass sie wahre Aussagen von mir ohne zu googlen einfach als „Schwurbelei“ abgetan haben):
Möchtest Du in einer Gesellschaft leben, in der ein unbekannter Erreger, über dessen Virulenz und Pathogenität es kaum empirisch belastbare Erkenntnisse gibt, von den Behörden erst einmal frei laufen gelassen wird, mal sehen was passiert, bei den Toten entschuldigen kann man sich immer noch später, oder lieber in einer Gesellschaft, in der in einem solchen Fall erst einmal auf Nummer sicher gegangen wird?
Wie gesagt hat man es konsequent unterlassen, derartige Erkenntnisse zu erheben bzw. entsprechende Hinweise (Schweden) in Betracht zu ziehen. Dass C19 nicht mit der Pest o. ä. vergleichbar ist, war selbst für rationale Laien relativ schnell erkennbar. Interessanterweise lief die Eindämmung ja anfangs unter dem Slogan „flatten the curve“ (vulgo: „du wirst dich früher oder später sowieso infizieren, Gefahr hin oder her“), und als die Zahlen das dann im Sommer 20 nicht mehr hergaben, ging es in Richtung „Infektionen vermeiden“ (vulgo: „du musst dich vor der Ansteckung mit einem Atemwegsvirus schützen, ob du willst oder nicht“). Wenn jeder die Freiheit hat, selbst zu entscheiden, ob und wie er sich vor einer Erkrankung schützen will, gibt es keine Notwendigkeit, sich bei jemandem zu entschuldigen, weil er sich damit infiziert hat (ausgenommen natürlich den Fall der wissentlichen, vorsätzlichen Ansteckung eines anderen). Selbst in Altenheimen gab es Bewohner, die aussagten, dass sie die Vereinsamung mehr belastet als die Angst vor C19. Wenn jemand ein Risiko in Kauf nehmen will, muss er es auch dürfen. Diese Übergriffigkeit ist ja genau das, was die Kritiker so auf die Palme gebracht hat. Bei einer entsprechend gefährlichen Krankheit würden sich die allermeisten Menschen auch von sich aus anders verhalten, weil sie durchaus in der Lage sind, Gefahren vernünftig einzuschätzen. Maximaler Lebensschutz ist auch in anderen Situationen (Grippewellen, Autofahren etc.) i. A. kein Maßstab unseres Handelns. Existenz gibt es eben nicht ohne Risiko.
So viel zum Thema, in Schweden hätte es keine oder kaum Maßnahmen gegeben.
Das allermeiste waren Empfehlungen, wobei insbesondere die Masken kaum getragen wurden. Und dass selbst bei den verpflichtenden Maßnahmen ein himmelweiter Unterschied zu anderen Ländern bestand (Lockdowns, Grundschulschließungen, 2G…), dürfte ohne weiteres klar sein.
Was die Zahlen in Schweden betrifft, so muss man eben konstatieren, dass nach dem anfänglichen Peak der Todesfälle in Schweden (den es auch in Lockdownländern wie Spanien gab) kein signifikanter Unterschied mehr zu Deutschland oder anderen Ländern besteht (egal ob man Intensivpatienten, Infektionen oder Todesfälle nimmt, vgl. Coronavirus (COVID-19) Deaths - Our World in Data). Bei den Intensivpatienten stehen wir sogar noch schlechter da. Dass man auch dort Dinge besser hätte handhaben können (Altenheime etc.) mag durchaus sein, aber zu einer Überlastung des Gesundheitssystems kam es eben nicht. Und wie gesagt, volle Intensivstationen gibt es jeden Winter. Unter dem Strich steht für Schweden je nach Zählung die oder eine der niedrigsten Übersterblichkeiten in Europa zu Buche (Sweden’s Covid death rate among lowest in Europe, despite avoiding strict lockdowns). Daraus folgern zu wollen, dass der sture „better safe than sorry“-Ansatz der bessere gewesen wäre, ist im Sinne des Nullhypothesenprinzips der Statistik schon ziemlich, sagen wir mal, gewagt.
Was im statistischen Mittel für eine Gruppe als ganze sinnvoll ist, muss deswegen aber noch nicht für jede Teilgruppe davon und erst recht nicht für jeden Einzelnen sinnvoll sein. Darüber müssen wir uns nicht streiten.
Bingo. Es war immer ein Grundprinzip des Impfens im Sinne eines Eingriffs bei einem gesunden Menschen, dass der Nutzen das Risiko eindeutig (!) überwiegen muss, und das war hier schon auf Basis der bekannten Nebenwirkungen (Myocarditis etc. Myocarditis following COVID‐19 vaccine: incidence, presentation, diagnosis, pathophysiology, therapy, and outcomes put into perspective. A clinical consensus document supported by the Heart Failure Association of the European Society of Cardiology (ESC) and the ESC Working Group on Myocardial and Pericardial Diseases - PMC) nicht für jeden der Fall.
Ich gehe hier aber noch einen Schritt weiter und lehne Zwangsmedizin aus ethischen Gründen grundsätzlich ab (man stelle sich einen Fall vor, wo jemand mit den Worten „nimm diese Medizin, die Experten sagen, sie ist gut für dich“ unter Androhung von Existenzvernichtung, Freiheitsentzug oder Gewalt zur Einnahme einer Arznei gezwungen wird. Bei diesem Gedanken läuft es mir kalt den Rücken herunter.)
Eine unbedingte Impfpflicht für jedermann beispielsweise habe ich daher ähnlich wie Du auch immer mit Skepsis betrachtet, wäre damit im Notfall aber einverstanden gewesen (auch wenn das eine politisch und nicht wissenschaftlich motivierte Maßnahme gewesen wäre).
„Rein politsch motivierte“ Grundrechtseingriffe kann und darf es in einem Rechtsstaat nicht geben. Wie gesagt lehne ich darüber hinaus jede Art von Zwangsmedizin ab. Das ist für mich eine grundsätzliche weltanschauliche Frage. Und die Impfpflicht ist dem Anschein nach ja auch nur an parteipolitischen Kungeleien und nicht an moralisch-rechtlichen Bedenken gescheitert.
Diese ganze Diskussion über die Wirksamkeit von Masken ist komplett surreal.
Ist sie das? Dazu verweise ich auf das Cochrane-Review: Cochrane Review zum Nutzen von Masken gegen Atemwegsinfektionen | Cochrane Deutschland
Die Datengrundlage geht doch etwas über „Stoff unter Wasserhahn“ hinaus. Fazit: „geringer oder gar kein Effekt“ und „keine belastbaren Unterschiede“ zwischen OP- und FFP-Masken. Selbst wenn man annimmt, dass eine dicht sitzende FFP2-Maske einen Schutz bietet, muss man den Aspekt der schlechten Adhärenz (wie Cochrane zutreffend bemerkt) bei Public-Health-Maßnahmen eben immer mit einrechnen.
Ich möchte an dieser Stelle auch noch auf die kürzlich geleakten vollständigen RKI-Protokolle verweisen (http://rki-transparenzbericht.de/). Damit ist leider endgültig bestätigt, dass die Aussagen des RKI politisch kompromittiert und somit nicht „rein wissenschaftlich“ waren. Somit weisen auch sämtliche Gerichtsurteile, die sich auf das RKI berufen, einen Makel auf (ich schreibe hier nicht, dass sie damit schon allein formaljuristisch hinfällig sein müssten, weil mich sonst sicher jemand - zu recht - darüber belehren würde, dass dies in unserem Rechtssystem nicht so ist). Trotzdem ist sowas aus rechtsstaatlicher Sicht ein ziemlicher Super-GAU. An dieser Stelle schöne Grüße an alle „Ich-sehe-keinen-Skandal“-, „Maßnahmen-sind-Sache-der-Politik“- oder „I-follow-the-science“-Apologeten
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Summa summarum kommt man mittlerweile einfach nicht mehr umhin zu konstatieren, dass sich die wesentlichen Kritipunkte am Umgang mit C19 als sehr zutreffend erwiesen haben und eine Handhabung wie in Schweden im Sinne der FDGO zumindest hätte versucht werden müssen. Die Aussage „hinterher ist man immer schlauer“ wird dem Rechtsstaatsprinzip nicht gerecht („justice delayed is justice denied“). Von den sozialen und ökonomischen Kollateralschäden gar nicht zu reden.
Dieser Post ist in erster Linie eine persönliche Antwort an dich, Alex. Du hast nie unter der rhetorischen Gürtellinie argumentiert, insofern kannst du denke ich zumindest einiges davon nachvollziehen und evtl. sogar verstehen. (Gilt vielleicht auch für den ein oder anderen User, der mich noch nicht als Aluhut geblockt hat und das hier noch liest). Die Argumente für eine kritische Position sind denke ich schon sehr schlagkräftig und mann muss sich die Augen schon ziemlich fest zuhalten, um sie einfach ohne Weiteres zu verwerfen. Ich hoffe, damit ist alles zum Thema gesagt. Wenn wieder jemand mit einem „hihi, du dummer Schwurbler“-Kommentar antworten oder sich etwas entsprechendes denken möchte, darf er/sie das gerne tun.