Thomas Müller, mein Lieblingsfußballer, hat sein letztes Pflichtspiel für unseren Verein gemacht, und das ist eine Zäsur in meinem Leben. Denn wenn ich Lieblingsfußballer sage, meine ich damit: Den Fußballer, den ich liebe.
Das ist jetzt vorbei. Denn den Lieblingsfußballer, den Fußballer, den man liebt, den muss ich „jetzt“ spielen sehen. Er ist immer mehr als Vergangenheit, mehr als Erinnerung, mehr als Nostalgie: Er ist Zukunft. Vor allem aber ist er Gegenwart, Tag für Tag. Vor Thomas Müller habe ich keinen Lieblingsfußballer gehabt, nicht in diesem Sinn. Werde ich jemals wieder einen Lieblingsfußballer haben, in diesem Sinn? Das weiß ich nicht. Ich werde sehen, was mein Leben noch bringen wird, und immerhin: We will always have London. And Rio de Janeiro. And Lisbon. Und immer so weiter, die Erinnerung daran gebe ich nicht mehr her.
Zudem: Ganz ist es noch nicht vorbei. Vielleicht macht er noch weiter; ich wünsche es mir nicht. Ich wünsche mir, dass Thomas Müller ein „One Club Man“ bleibt. Aber Thomas Müller ist kein Fußballromantiker – ich bin einer. Vielleicht macht er weiter, und das wünsche ich mir auch deshalb nicht, weil ich ihm bis in die MLS folgen würde, um dort jedes Spiel von ihm zu sehen, und das würde nicht zuletzt wegen der Zeitverschiebung einiges an Ärger machen. Aber wer weiß, es ist auch Schönes daran denkbar: Ich lege mir in einem amerikanischen Clubforum einen Account an, werde der dortige @kingkane und poste als „Master Mueller“…
Über sein Spiel möchte ich nicht viel schreiben, das haben andere besser getan, der Weg ist bekannt: Die unvergessliche WM2010. Der wundervolle Moment des Tors im Finale Dahoam. Wie weh 2012 getan hat: eben dieses Finale, und das EM-Halbfinale. Das Pokalfinale, das ich als Tracht Prügel empfunden habe. Die Erlösung und Ekstase der ersten Triple-Saison. Die Nächte gegen Barcelona, Thomas Müller Superstar. Fantastische Guardian-Artikel über ihn. Das Pokalfinale 2014, eines meiner Lieblingstore (das beim 9:2 gegen den HSV muss auch noch hier rein). Die WM2014. Immer wieder neu aufgestanden, immer wieder vorne mit dabei. 2020. Kennt Ihr alles.
Worüber möchte ich wirklich schreiben: Darüber, dass ich Thomas Müller auch außerhalb des Fußballplatzes immer sehr bewundert habe. Für seine Intelligenz, seine Reflektiertheit, vor allem aber für die mir kaum begreifliche Gleichzeitigkeit von Ehrgeiz und Lockerheit, die sich mMn aus seiner Authentizität speist: Thomas Müller ist mit sich selbst im Reinen, und über die Welt macht er sich keine Illusionen. Er weiß, dass unsere Welt „gemacht“ ist, und wir machen bloß mit; und er weiß, alles kann man anders machen, man muss es nur ausprobieren. Er nimmt sie vollkommen ernst, diese Welt, aber nicht so sehr, dass er sich selbst deshalb in Frage stellte. Für seine Schlitzohrigkeit habe ich ihn bewundert, für seine Schlagfertigkeit, für sein Gefühl fürs Absurde. Für seine gute Laune habe ich ihn geliebt, für seine Ehrlichkeit, für seine Empathie. Und für seine Höflichkeit, die umso schwerer wiegt, weil er eben ehrlich ist. Macht sein letztes Bundesligaspiel, was sagt er in der Mixed Zone zu den Journalisten: „Danke Euch.“ Macht sein letztes Pflichtspiel für den FCB, wird wegen der schrecklichen Musiala-Verletzung gefragt, ob er doch noch bleibt, was sagt er? „Die Frage ist jetzt so ein bissel – ich verstehe, dass du sie stellst, deswegen sag ich nicht, dass sie geschmacklos war – aber sie fühlt sich für mich unangenehm an.“ Ein Mensch mit soviel Erfolg, Macht, Intelligenz und Schärfe – und niemals hat er nach unten getreten. Wenn ich es mir recht überlege, hat er gar niemanden getreten.
Thomas Müller war also mein Lieblingsfußballspieler, und ich habe ihn geliebt. Warum nutze ich die Vergangenheitsform? Weil meine Gefühle für ihn untrennbar mit seinem Fußballspiel verbunden zu sein scheinen. Wer weiß, vielleicht werde ich den Vereinsfunktionär oder Trainer auch lieben, das ist schon möglich; es wird aber etwas anderes sein. Vielleicht reitet Thomas Müller auch in den Sonnenuntergang und gibt die Öffentlichkeit gänzlich auf. Wenn ich es einem zutraue, dann ihm, und ich würde es ihm gönnen. Für übermäßig wahrscheinlich halte ich es freilich nicht.
Wenn ich abschließend versuche eine Würdigung für ihn zu finden, dann diese: Er war der Raumdeuter, und das nicht nur auf dem Fußballplatz, sondern auch ganz allgemein in diesem so fragilen zwischenmenschlichen Raum, in dem unser Miteinander stattfindet. Was hat Thomas Müller vielleicht all den Größen, die die Geschichte unseres Vereins und des deutschen Fußballs geprägt haben, voraus? Thomas Müller hatte keine Illusionen über sich selbst, seine Mitmenschen und die Welt. Deshalb hat er sich auch nie von kleinlichen und kleinen Emotionen leiten lassen, oder ihnen zumindest nie Ausdruck verliehen; in all den Niederlagen und, was noch schwerer wiegt, im Triumphieren auch nicht, und das in vielen Jahren unter dem unbarmherzigen Auge der Öffentlichkeit. Niemals hat ihn sein Pragmatismus zum Zynismus verführt; nur zur Kreativität. Der Fußballer Thomas Müller war einzigartig, er kann ersetzt werden. Den Menschen Thomas Müller zu ersetzen wird dem FCB weitaus schwerer fallen. Denn Thomas Müller hatte nicht nur Charisma – Thomas Müller hatte Stil.