Perspektivwechsel bei der Bewertung von und Vorbereitung auf Spiele

Wenngleich ein wenig „off-topic“, muss ich doch noch etwas loswerden zum Thema „PERSPEKTIVWECHSEL“ bei der Bewertung von Fußballspielen.

Nach dem 2:0 „in“ Liechtenstein (dass St. Gallen in der Schweiz liegt – geschenkt) hat mich geärgert, dass die Offiziellen plus die Sportjournalisten direkt oder indirekt darüber gejammert haben, dass uns bei dem Klassenunterschied ja „eigentlich“ ein 6:0 oder 10:0 zugestanden hätte. Das mag ja auch so sein.

Doch könnt Ihr Euch vorstellen, wie dies als „typisch deutsche Arroganz“ bei den Liechtensteinern, Schweizern und generell im Ausland ankommt?
Und dann noch der geringschätzige Vorwurf, das habe ja nur daran gelegen, dass der Gegner nicht offensiv „mitgespielt“, sondern sich hauptsächlich auf Abwehrarbeit beschränkt habe…

Ein wirklich „weltmännischer Trainer mit guten Umgangsformen“, der auch schon mal ausländische Mannschaften trainiert hat (ein Hitzfeld oder Heynckes hätte das m.E. getan), hätte in der PK nach dem Spiel zwar unser Team dafür kritisiert, dass es sich so schwertat, eine defensiv ausgerichtete Mannschaft auszuspielen, hätte aber sinngemäß ergänzt:

„Großes Kompliment an unseren Gegner und den Trainerkollegen Stocklasa, dass sie aus ihren Möglichkeiten das beste herausgeholt und so aufopferungsvoll verteidigt haben, dass uns keine weiteren Gegentore gelungen sind“.

Man muss sich doch mal klarmachen, dass laut „transfermarkt.de“ unsere Nationalspieler einen 739mal (!!!) höheren Marktwert haben als der 189. der Weltrangliste (hinter Bhutan und Bangladesch…) und selbst 1860 München 5,5mal mehr „wert“ ist als die Liechtensteiner.

Für die Liechtensteiner Briefträger u.ä. (= Halbprofis) war das 0:2 gegen einen vermeintlichen Giganten wie Deutschland doch wahrscheinlich das Spiel ihres Lebens, von dem sie noch ihren Enkelkindern erzählen werden.
Falls es mir (der ja nicht alle TV-Kommentare gesehen hat) entgangen sein sollte, dass Flick oder irgendein deutscher Sportjournalist den Gegner DOCH in o.g. Sinne gelobt hat, nehme ich alles wieder zurück…

Unabhängig von den Nationaltrainern Löw und Flick scheint mir das allerdings ein GENERELLES Problem hierzulande zu sein, das fast ALLE Trainer und Spieler in ihren Interviews nach dem Spiel zeigen. Ich rede von der fehlenden oder zumindest unterentwickelten Fähigkeit zum PERSPEKTIVWECHSEL.
Mal angenommen, der BVB spielt nach einem spannenden Schlagabtausch zuhause gegen Augsburg „nur“ 2:2. Da wird man unter aller Garantie nach dem Spiel (egal ob vom Trainer, Vorstand oder von Reus) im TV so etwas hören wie:
„Wir haben leider nicht 100% unseres Potentials abgerufen, sonst hätten wir dieses Spiel gewinnen müssen. Und wenn in der 77. Minute der Pfostentreffer von Haaland drinnen gewesen wäre, dann wäre alles klargewesen“.

Abgesehen davon, dass das mathematisch völliger Blödsinn ist, so als ob es ein „eigentliches“ imaginäres Potential von 100% gäbe, von dem man wahlweise 67% oder 88% „abrufen“ kann („Haaaallllllo Potential, ich rufe Dich!“): wenn der BVB 10% mehr abgerufen hätte, wäre Haalands Pfostentreffer dann etwa 5 cm weiter rechts ins Tor gerauscht? Man müsste das dann ja zumindest dagegen aufrechnen, dass auch die Augsburger behaupten könnten, sie hätten heute 20% ihres „eigentlichen“ Potentials nicht auf den Platz gebracht, oder dass auch Augsburg gute Torchancen vergeben hat.

Oder dass, WENN Haaland tatsächlich in der 77. Minute auf 3:2 erhöht HÄTTE, Augsburg dann eben nicht (wie in der Partie) die letzte Viertelstunde nur noch auf Ergebnissicherung gespielt, sondern alles nach vorne geworfen und ggf. ein 3:3 oder sogar 3:4 geschossen hätte…

Was mir hingegen viel zu selten vorzukommen scheint (und die bislang viel zu vorhersehbaren Interviews um einiges spannender machen würde), wäre, dass in o.g. Beispiel ein Reus so etwas sagen würde wie:

„Wir mögen zwar nominell die bessere Mannschaft haben und hatten bei diesem Heimspiel auch deutlich mehr Ballbesitz, aber Augsburg hat heute in Abwehr und Angriff eine sehr gute Leistung gebracht. Natürlich hätten wir gerne noch das 3:2 geschossen, aber Augsburg hat auch gute Chancen ausgelassen, so dass das Ergebnis heute insgesamt in Ordnung geht. Kompliment übrigens an den Augsburger Torwart, der hat zwei oder drei Weltklasse-Paraden gezeigt“.

Es ist wohl zu „romantisch“, von solch einer Objektivität und von solchen „Gentlemen im Fußball“ zu träumen.
Heute gibt´s die kaum noch, und vielleicht hat es sie auch früher nie gegeben…

Aber Stopp: wenn ich noch mal drüber nachdenke, muss ich mich korrigieren, denn es gibt zumindest EIN großes Gegenbeispiel!
Unter den absoluten Top-Trainern ist Pep Guardiola m.W. derjenige, der am meisten die Perspektive des (nächsten) Gegners einnimmt und sich, selbst wenn dieser auf dem vorletzten Tabellenplatz steht, per Video-Analysen, strategischen Planspielen usw. im Vorfeld fast schon exzessiv auf diesen vorbereitet.

SEIN Problem ist, dass er dies zuweilen ZU sehr tut und vor lauter übertriebener „Empathie“ mit den Stärken des Gegners dabei die Vorzüge der EIGENEN Mannschaft (und damit sich selbst) aus den Augen zu verlieren droht; ansonsten hätte er mit seinem Milliarden-Kader schon längst die CL gewonnen.
Bestes Beispiel dafür ist sicher das Euch allen bekannte Ausscheiden gegen Chelsea, als er einen SO großen und übersteigerten Respekt vor den Optionen des Gegners (und vermutlich auch von Tuchel als Person…) an den Tag legte, dass er sozusagen per „Doppel-Bluff“ NOCH schlauer sein wollte als die potentiell schlauesten Mänover Chelsea´s - und sich dabei völlig „vercoachte“.
Die Konsequenzen dürften Euch allen noch in Erinnerung sein.

Hansi Flick hingegen verkörperte quasi den Gegenentwurf zu Pep´s „Super-Empathie“. In seinen 1 ½ extrem erfolgreichen Jahren beim FCB spielte er fast schon stur immer wieder seinen Stiefel runter, und das auch noch mit mehr oder weniger immer derselben Stammelf (was zum Teil aber auch dem geschuldet war, dass er nicht viele gleichwertige personelle Alternativen zur Verfügung hatte). Er stellte sich nur vergleichsweise wenig auf die Spezifika des nächsten Gegners ein, sondern vertrat die Meinung: „WIR geben den Takt vor, und der Gegner hat sich nach UNS zu richten“.

Obwohl die Spielweise des FCB dadurch für jeden Gegner leicht vorhersagbar war, gab der Erfolg Flick zweifelsohne Recht.
Der Frage aber, ob das auf DAUER weiter so funktioniert hätte (und dann auch noch mit weiter ausgedünntem Kader…), ist er durch seinen Wechsel zur Nationalmannschaft elegant ausgewichen.
Wobei das nicht als Kritik zu verstehen ist, denn ich hätte es an seiner Stelle genauso gemacht, wenn sich die Gelegenheit dazu geboten hätte.

Bleibt also die Frage an EUCH: wie sehr Ihr das mit der Frage des PERSPEKTIVWECHSELS bei der Beurteilung VON und bei der Vorbereitung AUF Fußballspiele?
Ich bin gespannt auf Eure Feedbacks.

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Wäre das nicht eher etwas für einen eigenen Thread? Hier geht es ja um den Spieler des Monats, da wird Dein Thema eher untergehen

Im Sport ist es üblich über sich und nicht über den Gegner zu reden, weil es als anmassend empfunden werden kann, wenn man die Leistung des Gegners beurteilt. Das sollte man schon dem Gegner selbst überlassen bzw. seinem Trainer. Wenn die Trainer einen guten Draht zueinander haben, kann es schon mal vorkommen, aber das ist dann eher eine Ausnahme.

Alle Mannschaften analysieren den Gegner und bereiten sich auf das Spiel vor. Je grösser aber meine eigene Qualität ist im Vergleich zum Gegner, desto weniger Sinn macht es sich anzupassen, weil ich dadurch tendenziell mehr an Qualität verliere als das ich den Gegner schwäche. Die Besten ziehen in der Regel ihr Ding durch.

Noch ein Nachtrag: ich würde das keinesfalls werten mit Begriffen wie Empathie. Das ist eine nüchterne Kosten/Nutzen-Abwägung und jeder Trainer kommt da zu anderen Ergebnissen. Es hängt unter anderem auch davon ab, wieviel Zeit ich habe, Alternativen einzuüben. Wenn meine Mannschaft auf gleichem Niveau Dreier- oder Vierekette spielen kann, macht häufiges Anpassen je nach Gegner mehr Sinn, als wenn ich ein ganz klares „Paradesystem“ habe.

Hallo @Mondrianus, ich habe das mal in ein eigenes Thema geteilt, aber weiß nicht, ob die Überschrift passend ist. Hättest du die gern geändert? Worauf?

Dankeschön!

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