Elend und Ekstase: Eine Topographie des Bayern-Fans

  1. DER EMOTIONALE ANALYST:
    Stößt immer wieder an die Grenzen der eigenen Rationalität und Vernunft, weil er mit zunehmendem Alter merkt, dass er und der Verein, in den er sich früh verliebt hat, an vielen Stellen deutlich unterschiedlicher sind, als ihm Lieb sein kann. Flüchtet irgendwann von der emotionalen auf die analytische Ebene, baut dadurch eine größere Distanz auf, lernt aber in immer neuen Perspektiven ständig dazu – und das nicht nur auf das „Kerngeschäft“ Fußball bezogen. Bildet sich weiter, will immer mehr erfahren und erfährt dabei manchmal ein wenig zu viel. Sehnt sich gleichzeitig nach dem emotionalen Adrenalin, das er einst spürte, als Schweinsteiger und Lahm durch Tiefen und Höhen gingen und er alles andere noch ausblenden konnte. Befindet sich deshalb stets im Spagat zwischen rationaler Analyse und großer Emotionalität.

  2. DER TRAINERSOHN:
    Spielte jahrelang selbst Fußball und erlebte, was es bedeutet, (Jugend-)Trainer zu sein, weil sein Vater genau das war. Lernt dadurch auf besondere Art und Weise, den Fußball durch andere Augen zu sehen und dass Trainersein mehr ist, als nur elf Spieler aufzustellen. Sieht die Freuden ebenso wie die Leiden und entwickelt ein Interesse am Detail, das ihn fortan nicht mehr loslässt. Versucht nun, auch die Spiele im Fernsehen durch eine andere Perspektive wahrzunehmen und zu verstehen, warum etwas passiert statt wie zuvor einfach nur festzustellen, dass etwas passiert. Entwickelt dadurch auch eine neue Ebene der Liebe zum Spiel und einen Zugang, der vielleicht sogar sein Dasein als Fan rettet.

  3. DER GENDERNDE KOMMUNIST:
    Hat einen Bayern-Podcast und bekommt auf YouTube immer witzige Liebesbotschaften in die Kommentare geschickt, weil er gendert und das böse Wort „Kapitalismus“ zu oft nennt.

  4. DER BLOGGER:
    Er sieht sich in der Berichterstattung über seinen FC Bayern längst nicht mehr repräsentiert und ist genervt von Experten wie von Sendern, dass immer wieder dieselben Mechanismen greifen. Auf der Suche nach anderen Ansätzen entscheidet sich „der Blogger“, selbst Hand anzulegen und die Unweiten des Internets zu erobern. Für ein Publikum von 30 Leser*innen schreibt er in regelmäßigen Abständen kleine Texte. Von emotionalen Geschichten über eigene Erlebnisse als Fan bis hin zu gewagten Prognosen, die meist in die Hose gehen und schließlich auch Analysen, die hinter die Oberfläche blicken, die im Fernsehen und in anderen Medien oft nur angekratzt wird. Aus 30 werden schnell 50, dann 100, dann 300. Auch in den sozialen Netzwerken nehmen die Interaktionen zu. Plötzlich klopft der größte Blog des FC Bayern an und will, dass er für sie schreibt. Er sagt zu. Aus 300 werden Tausende. Es entstehen Kontakte, es kommen Anfragen für Bücher und Anfragen von den Medien, die er selbst so kritisch sieht. Es entstehen Konflikte. Mit der Stoßrichtung dieser Medien, durch die größer werdende Distanz zum FC Bayern, durch das Abwenden manches eingefleischten Lesers oder mancher Leserin, der oder die glaubt, dass der Blogger nun auch zu denen gehört, die mit dem FCB Geld verdienen wollen. Es beginnt ein stetiger Kampf der Positionierung. Wo und wofür will er stehen? Was will er vermitteln? Wo sind Grenzen und wo ist es okay, auch mal Kompromisse zu suchen, um mittel- und langfristig nach vorn zu kommen? Der Blogger sieht sich konfrontiert mit der Realität, die sich hier und da mit seinen Werten beißt. Er sieht sich konfrontiert mit Leuten, die ihm das übel nehmen. Mit Kritik ebenso wie mit Lob. Mit Hassmails und Drohungen von Leuten, die mit seiner kritischen Haltung nichts anfangen können und ihm unterstellen, Böses zu wollen, ebenso wie mit immer neuen Chancen und tollen Begegnungen. Und gleichzeitig gerät er ständig in neue kleinere Krisen, wenn es um die Beziehung zum FC Bayern geht. Es ist kompliziert, hätte man früher wohl auf Facebook vermerkt. Eine Trennung kam dennoch nie in Frage.

Also … zumindest könnte ich mir vorstellen, dass es solche Typen gibt. Ich persönlich kenne ja keinen.

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