Im Februar/März 2023 gab es im Kommentarbereich von ZEITonline eine sehr kontrovers geführte Debatte über ein zuvor dort mit der Virologin Melanie Brinkmann geführtes Interview. Man vermisste z.B. eine Entschuldigung dafür, dass sie zwei Jahre zuvor die „No-Covid-Strategie“ befürwortet hatte. Um mir die doppelte Arbeit zu ersparen, zitiere ich aus meinen Antworten auf diese Vorwürfe:
„Insgesamt war das Zusammenspiel zwischen Politik und Wissenschaft doch gar nicht schlecht und einer freien Gesellschaft durchaus würdig. Wissenschaftler sollen ihr Wissen in einer so dramatischen Situation allgemeinverständlich zur Verfügung stellen und auch klar machen, dass es nicht absolut ist, sondern sich im weiteren Verlauf relativieren oder gar als falsch herausstellen kann. Auf dieser Basis sollen sie Vorschläge machen. Die gewählten Politiker sollen diese ernst nehmen, aber auch Aspekte - summarisch gesagt: der Machbarkeit - mit ins Kalkül ziehen, die wiederum die Wissenschaftler nicht berücksichtigen müssen. Dieses Zusammenspiel hat gerade im Fall der No-Covid-Strategie gut funktioniert. Ich bin jedenfalls nicht böse (und würde es Frau Brinkmann daher auch nicht vorwerfen), dass der Vorschlag auf den Tisch kam und, etwa auf ZON, ernsthaft diskutiert wurde. Aber ich bin auch froh, dass die Politik ihn nicht realisiert hat. Damals wusste man naturgemäß nicht, ob das ein Fehler war. Aus heutiger Sicht wohl nicht. Diese sinnvollen Grenzen ihres Einflusses haben Wissenschaftler auch immer wieder betont. Keine ganz leichte Übung damals, als man sich so sehr an ihre Aussagen geklammert hat. Insofern erübrigt es sich aus heutiger Sicht, längst zur Makulatur gewordene Vorschläge heute so streng, wie hier teilweise geschehen, zu beurteilen.“
Fremdzitat:
„Der Punkt ist … , dass Frau Brinkmann im Interview darin nach wie vor keinen Fehler sieht (und) diese Idee … wiederbelebt wird.“
Meine Antwort:
"Welchen Sinn soll es haben, sich jetzt an Frau Brinkmann festzubeißen, weil sie - aber nicht sie allein - Vorschläge gemacht hat, die einigen nicht gefallen haben (wie gesagt: auch ich trauere der No-Covid-Strategie nicht hinterher)? Weil sie über bessere Expertise als die Politiker verfügen und auch nicht die Chancen für eine Wiederwahl bedenken müssen, sollen sie ja gerade mögliche Strategien entwickeln, die nicht schon durch mehrfache Vorerfahrung abgesichert sind. Die Politik hat sich gegen NoCovid entschieden. Und Frau Brinkmann soll Abbitte leisten dafür, dass sie diese Strategie damals befürwortet hat? Es ist ja noch nicht einmal bewiesen, dass dieses Vorgehen nicht unter dem Aspekt der Opferzahlen das erfolgreichere gewesen wäre. Sie sagt, worin aus damaliger Sicht für sie der vermutete Nutzen lag; mehr muss sie nicht tun. Anders läge der Fall, wenn NoCovid realisiert worden wäre: dann wäre eine Stellungnahme zu möglichen (und wahrscheinlichen) negativen Aspekten angebracht. Der Wissenschaft aber heute schon vorschreiben zu wollen, welche Vorschläge sie in künftigen Krisen zu unterlassen habe, führt, zuende gedacht, zu einer Beschränkung ihrer Gedankenfreiheit, die zur Folge hätte, dass sie sich dankend in den Elfenbeinturm zurückzöge und es damit ausschließlich der Politik überließe, nach Lösungen zu suchen. Wollen wir das?
Ich hatte eingangs dieses Threads für eine Ex-ante- statt einer Ex-post-Betrachtung plädiert. Weil man die Vorschläge wie z.B. NoCovid sinnvoll nur aus der - in der Pandemie sich stets wandelnden - aktuellen Situation heraus beurteilen kann. Ungeachtet einiger Zustimmung hat sich die Debatte, wie zu erwarten war, bald der Ex-post-Betrachtung zugewandt. So werden nun die Vorschläge von vor zwei Jahren aus heutiger Warte bewertet und - im Fall von NoCovid - z.T. scharf verurteilt. Und das, obwohl diese Strategie in Deutschland nicht befolgt wurde. Damals war noch nicht einmal die besonders gefährliche Delta-Variante bekannt. Der Vorschlag diverser namhafter Wissenschaftler unterschiedlicher Fakultäten wurde auch vom Chef des Ifo-Instituts, also einem Experten für die Auswirkungen auf die Wirtschaft, unterstützt."